Neukölln ist überall (German Edition)
Gesellschaft arme Kinder bei niedrigen Temperaturen laufen lässt, für die Grippe verantwortlich ist und natürlich für die dadurch verursachte schlechte Note in der Klassenarbeit. In Rotterdam sieht man das gelassener.
Beim Besuch in einem Polizeirevier konnten wir eine Art Beziehungsspinne über eine ganze Zimmerwand bewundern. Fotos von allen bekannten Kunden des Reviers hingen an der Wand und waren mit Linien verbunden, die ihre Sozialkontakte darstellten. Dieses Hilfsmittel ermöglicht es jedem Streifenpolizisten in dem Ortsteil, sich einen schnellen Überblick zu verschaffen, wer mit wem für gewöhnlich zusammen ist und etwas anstellt. Nun wird diese Einrichtung sicher nicht die Kriminalistik revolutionieren, aber nach Aussage der Polizeibehörde hat sie sich bewährt.
Eine andere Seite der Polizei lernen die Jugendlichen in dem Projekt »Watch out!« kennen. Junge Leute zwischen 16 und 22 Jahren patrouillieren in Uniformen unter Anleitung der Polizei im Wohngebiet und schreiben Berichte über das, was sie gehört, gesehen und erlebt haben. Sie erhalten dafür den üblichen Mindestlohn, und die Tätigkeit wird als Praktikum für die Ausbildung bei einem privaten Sicherheitsdienst anerkannt. Eine absolut simple Maßnahme, die für bestimmte junge Männer Charme hat. Ich könnte mir das für Neukölln durchaus vorstellen. Das würde aber ein Umdenken bei unserer Polizei erfordern.
Die Staatsanwaltschaft ist dezentralisiert. Sie residiert in angemieteten Wohnungen oder Geschäftsräumen. Die Fenster sind unverhangen, jeder kann die Mitarbeiter bei der Arbeit beobachten, sie grüßen oder unangenehmerweise von ihnen gegrüßt werden. Der Klientel wird auf diese Weise deutlich sichtbar die Botschaft vermittelt: »Die Strafe folgt auf dem Fuße.« Das hat eine erhebliche psychologische Auswirkung. Darüber hinaus arbeitet die Staatsanwaltschaft mit allen übrigen Diensten zusammen und entscheidet sofort vor Ort, ob ein förmliches Verfahren eingeleitet wird oder ob sie es bei Arbeitsstunden, Bußgeld oder ähnlichem bewenden lässt.
Das Besondere und aus meiner Sicht die optimale Vernetzung und Loslösung von der Versäulung behördlichen Handelns ist der TIP (Transfer Informatie Punt), eine Form der Zusammenarbeit von Behörden, wie ich sie aus Deutschland überhaupt nicht kenne. In einem auch von den übrigen Behördenstandorten abgetrennten Gebäude arbeiten Mitarbeiter der Polizei, des Jugendamtes, der Schule, der Kindertagesstätten, der Gesundheitsbehörden, des Arbeitsamtes und auch der Energieunternehmen zusammen. Hier werden alle Informationen zusammengetragen, die den einzelnen Behörden oder Institutionen über Risikopersonen oder Risikofamilien vorliegen. Dieser Pool von Informationen soll zu einem sehr frühzeitigen Erkennen von Problemlagen führen. Wenn ein Kind wiederholt beim Schwarzfahren erwischt wird, kann das darauf hindeuten, dass bei der Erziehung nicht alles rundläuft. Wenn eine Familie über drei Monate ihre Stromrechnung oder ihre Miete nicht bezahlt hat, kann das auf ein entstehendes Problem hinweisen. Diese Dinge werden in einer gemeinsamen Datei erfasst, und die Behörden beraten, wer von ihnen jetzt wie tätig wird, und zwar aktuell innerhalb von 24 Stunden. Regelmäßig wird in Fallrunden über Problemlagen von Einzeltätern und delinquenten Jugendgruppen gesprochen und eine Strategie vereinbart. Das klare Ziel ist, die Anonymität zu beseitigen und dies die Betroffenen auch merken zu lassen. Es soll ein sozialer Druck aufgebaut werden.
In dem TIP für ein Einzugsgebiet von etwa 25 000 Einwohnern, den wir besuchten, waren ungefähr 400 Familien datenmäßig erfasst. Alle angeschlossenen Organisationen hatten jederzeit Zugriff auf die Daten und den momentanen Sachstand. Nach einer gewissen Zeit der Unauffälligkeit werden die Daten gelöscht.
Diese Vernetzung bedeutet einen ungehinderten Datenfluss zwischen allen Beteiligten. Da die Niederlande keine Bananenrepublik sind und natürlich auch den Begriff des Datenschutzes kennen, gibt es zum Umgang mit dem Datenschutz einen öffentlichen Vertrag, der einsehbar ist und von jedermann kontrolliert werden kann. Sie finden einen solchen Vertrag ins Deutsche übersetzt im Anhang dieses Buches. Dieser TIP hinterließ bei mir einen starken Eindruck. Er vermittelte mir das Gefühl, dass die Stadt mithilfe dieses Instrumentes weiß, was im Gebiet los ist und wer ein Problem darstellt, auf dem Weg ist, ein Problem zu werden, und wo die
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