Neukölln ist überall (German Edition)
Bevölkerung wie auch der integrierten Einwandererbevölkerung ist inzwischen so ausgeprägt, dass bestimmte Auswüchse und Verwahrlosungen als Folge einer zu liberalen Stadtpolitik, wie sie in Rotterdam vor zehn Jahren offensichtlich gang und gäbe waren, nicht mehr hingenommen werden. »Wir haben die Konsequenzen aus unserem Pim Fortuyn gezogen«, so lautete die Botschaft für uns. Man merkt, dass die Bevölkerung aufgrund der von Menschen aus unterschiedlichen Kulturkreisen geprägten Geschichte der Niederlande stark durchmischt ist. Hierzu herrschen ein spürbarer Grundkonsens und eine entspannte Selbstverständlichkeit. Für mich war überraschend, mit welcher Natürlichkeit und Gelassenheit auch Einwanderer oder Nachkommen von Einwanderern über soziale und kulturelle Probleme mit oder von Einwanderern diskutierten. Sie beteiligen sich aktiv an der Entwicklung von Lösungsstrategien und Politikansätzen, um unerwünschter Situationen Herr zu werden. Eine Diskussionsverweigerung wie bei uns, unter der Überschrift »Über so etwas spricht man nicht«, habe ich bei keiner meiner Begegnungen erlebt. Im Gegenteil, eine so große Transparenz und Offenheit, die eigenen Probleme auch Besuchern zu präsentieren, hatte ich vorher und habe ich hinterher nur ganz selten kennengelernt.
Der Schlusspunkt in Rotterdam war der Besuch einer Moschee von Millî Görüş. Wir hatten dort eine sehr angeregte und engagierte Diskussion mit dem Imam im Beisein der Geschäftsführerin oder Sekretärin der Gemeinde. Sie trug, was für Mitglieder von Millî Görüş ausgesprochen selten ist, kein Kopftuch. Der Imam stellte das auch mehrfach als Beweis für die Liberalität dieses Moscheevereins heraus. Es überraschte uns, welch enger, scheinbar fast herzlicher Kontakt zwischen der Rotterdamer Verwaltung und diesem Verein herrschte. Als wir auf die zwiespältige Beurteilung von Millî Görüş in Deutschland hinwiesen und die unterschiedlichen Sichtweisen ansprachen, lautete die Begründung: Sie holen am Nachmittag die Jugendlichen von der Straße, sie spielen mit ihnen Fußball oder sie machen mit ihnen Hausaufgaben – wieso sollen wir etwas dagegen haben? Wir haben uns im laufenden Betrieb dort umgesehen und fanden alles vor wie angekündigt. Während also Millî Görüş als türkischer Ableger der arabischen Muslimbruderschaft in Deutschland aus meiner Sicht zu Recht vom Verfassungsschutz beobachtet wird, pflegt die gleiche Organisation in den Niederlanden ein durchaus geachtetes und entspanntes Verhältnis zu den dortigen Behörden. Auf meine Frage, woher der Imam seine Predigten für das Freitagsgebet erhält, antwortete er mir mit nachsichtigem Lächeln: »Natürlich aus Köln, dort ist doch die Zentrale unserer Organisation.« (Er meinte wohl Kerpen bei Köln.)
London war unsere nächste Station. Die Rolle des Türöffners hatte die Britische Botschaft in Berlin übernommen. Der damalige britische Botschafter, Sir Michael Arthur, war hochgradig an der Integrationspolitik Deutschlands interessiert. So kam es, dass eine kleine Delegation aus Berlin-Neukölln, bestehend aus einer Schulleiterin, einer Kindertagesstättenleiterin, dem Migrationsbeauftragten und mir, bereits in der Botschaft offiziell zum Dinner eingeladen war, bevor der Botschafter überhaupt beim Regierenden Bürgermeister offiziell empfangen worden war. Das war schon ein netter Gag. Sir Michael Arthur hat sich dann während seiner Amtszeit in Berlin immer wieder in Neukölln aufgehalten und war bald eine bekannte und geschätzte Persönlichkeit im Bezirk. Es kann also nicht überraschen, dass die Reise nach London unter seinem besonderen Schutz stand.
Das merkten wir vor Ort auch schnell an der Hochrangigkeit unserer Gesprächspartner in der britischen Hauptstadt. Aber so erlesen sie waren, so unterschiedlich waren sie dann auch. Unser Briefing begann bei dem für Einwanderung und Integration zuständigen Department for Communities and Local Government . Hier wurden Probleme natürlich kleingeschrieben. Mit einer Studie wies man uns stolz nach, dass 82 % aller Briten gut miteinander auskommen. Bei näherer Betrachtung stellte sich allerdings heraus, dass jeweils die weißen und die schwarzen Communities unter sich selbst abgestimmt hatten. Die Befragung bestätigte somit eigentlich nur die seit Jahren vollzogene Trennung in schwarze und weiße Wohngebiete. Mein Eindruck war, dass in London eine ethnische Durchmischung der Stadtteile nicht mehr angestrebt
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