Neukölln ist überall (German Edition)
irgendwelchen Laienthesen versteigen. Für mich muss es aber noch eine andere Erklärung geben als die, dass das Erlernen einer neuen Sprache eben anstrengend und schwierig ist. Es müssen weitere Faktoren vorhanden sein. Denn auch wir stehen etwas hilflos vor dem Umstand, dass die dritte, ja teilweise sogar bereits die vierte Generation unserer türkischen Einwanderer mitunter einen katastrophalen Sprachstand aufweist. Auch für Neukölln kann ich bestätigen, dass neben den türkischen und arabischen Einwanderern eigentlich keine Ethnie so starke Sprachmängel auch nach jahrzehntelangem Aufenthalt im Land hat.
Rotterdam war nicht nur der Start unserer Expedition, sondern wir haben dort auch den überzeugendsten Politikansatz kennengelernt. Man mag über einige Details unterschiedlicher Meinung sein, aber es ist nicht zu bestreiten, dass es seitens der Stadt eine hohe Affinität zur eingewanderten Bevölkerung gibt. Man spürt überall den konsequenten Willen, Missstände zu beseitigen und alle in einen Zielkorridor des Lebens zu führen. Das ist sicher aus der Situation der Stadt im Zeitraum 2000/2002 zu erklären. Uns wurde berichtet, dass es damals nicht angeraten war, bei Dunkelheit auf die Straße zu gehen und den öffentlichen Raum zu nutzen. Das war jene Zeit, als der Rechtspopulist Pim Fortuyn, der dann im Mai 2002 in Hilversum erschossen wurde, unerhörte Erfolge feierte. Die bürgerlichen Parteien kamen überein, dass die Verhältnisse radikal verändert werden müssten, damit die Stadt nicht ihren sozialen Frieden verliere und in die Unregierbarkeit abrutsche. Es kam zu einer völligen Umkehrung der Politik, die allerdings auch einherging mit starkem Abbau der bürgerlichen Rechte. So erhielt die Polizei die Befugnis, jederzeit ohne Anlass Straßen zu sperren und Personen zu kontrollieren. Genauso kam der Entzug des Aufenthaltsrechts in der Stadt zur Anwendung, um auffälligen Familien zu verdeutlichen, dass ihr Tun nicht mehr geduldet wird. Oder es wurden Interventionsteams gegründet, die befugt waren, anlassunabhängig Häuser und Wohnungen zu begehen, um nach Missständen Ausschau zu halten. Diese Interventionsteams bestehen aus Mitarbeitern der Sozialbehörde, des Ordnungsamtes, der Stadtwerke, der Wohnungsbaugesellschaft und der Polizei. Wird ihnen der Eintritt verweigert, dann reicht das zur Begründung eines gerichtlichen Durchsuchungsbeschlusses. Auftrag des Interventionsteams war und ist nicht nur, nach störendem Verhalten der Bewohner zu suchen, sondern auch zu schauen, ob die Wohnbedingungen sozial angemessen und die technischen Einrichtungen des Hauses intakt sind. Bei Überbelegungen wird Ersatzwohnraum beschafft, und bei technischen Problemen wird dem Hauseigentümer auferlegt, die Mängel zu beseitigen.
Eine Ergänzung zu den Interventionsteams stellen die Stadtmariniers dar. Das sind Behördenmitarbeiter, denen bestimmte regionale Gebiete mit der Aufgabe zugeordnet sind, dort nach dem Rechten zu sehen und direkter Ansprechpartner für alles und jeden zu sein. Sie sind dem Bürgermeister direkt unterstellt. Egal, ob es lähmenden Zank zwischen Behörden darüber gibt, wer was zu tun hat, oder die Bürger meinen, dass eine bestimmte Situation mehr Engagement erfordert, für all diese Dinge sind sie der Sorgenengel. Sie geben Anweisungen, ohne zuständig zu sein, und im Weigerungsfall geht die Meldung direkt an den Bürgermeister, was unangenehme Konsequenzen haben kann. Jeder weiß das, und deswegen sind die Stadtmariniers eine beachtete Instanz.
Auch die Polizei agiert recht drastisch. Terrorisiert etwa eine Jugendgruppe das Wohngebiet mit ihren knatternden Mopeds trotz wiederholter Ermahnung weiter, werden die Mopeds eingezogen und der sofortigen Vernichtung zugeführt. Man stelle sich das einmal bei uns vor. Meine Güte, da würden aber hoch bezahlte Anwaltskanzleien Umsatzsprünge zu verzeichnen haben, wenn sie gegen eine solche Willkürherrschaft der Polizei zu Felde ziehen könnten. Jugendliche, die wiederholt beim Zerkratzen der Scheibe in den Straßenbahnen oder beim Aufschlitzen der Polster erwischt werden, erhalten Fahrverbot und dürfen zur Schule laufen. Ihr Bild hängt dann bei jedem Straßenbahnfahrer, damit er sie nicht übersieht. Ich projiziere dieses Bild nach Deutschland: hyperventilierende Aufregung von wichtigen und weniger wichtigen Organisationen oder selbsternannten Beschützern, die flügelschlagend durch die Gegend rennen und beklagen, dass eine herzlose
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