Neukölln ist überall (German Edition)
Ansatzpunkte für Hilfestrategien sind. Ich kann mir gut vorstellen, dass professionelle Datenschützer bei uns beim Lesen dieser Zeilen dem Herzkasper sehr nahe sind. Man muss aber wissen, dass der Datenschutz, so wie er bei uns praktiziert wird, die erfolgreichste Täterschutzeinrichtung ist.
Als Schmankerl am Rande kann ich die kleine Geschichte beitragen, dass sich in einer Neuköllner Schule eines Tages vier zwangsversetzte Intensivtäter zusammenfanden, weil keine Institution der anderen sagen durfte – und der Schule natürlich erst recht nicht –, was sie mit ihrem »kleinen Liebling« zu machen gedachte. Wenn eine Kinderärztin dem Gesundheitsamt mitteilt, dass eine dort betreute Familie die vereinbarten Kontrolluntersuchungen nicht wahrnimmt, obwohl der Verdacht auf Misshandlung besteht, handelt sie sich in Berlin ein Verfahren ein. Völlig irre.
Eines möchte ich nicht unerwähnt lassen: Derjenige, der seinen Unterhalt nicht alleine bestreiten kann, hat in Rotterdam keine freie Wahl des Wohnortes mehr. Die Freizügigkeit wird mit einem Gesetz zum Schutz der öffentlichen Ordnung eingeschränkt. Dies gibt der Verwaltung die Möglichkeit, zum Beispiel Störerfamilien auszuquartieren oder den Zuzug erst gar nicht zuzulassen. Damit ist eine gewisse Steuerung der Sozialstruktur möglich. Unabhängig davon, dass ich dieses Instrument in der Mengenanwendung nicht überschätzen würde, halte ich eine Übertragbarkeit auf deutsche Verhältnisse für sehr gewagt bis nicht erstrebenswert. Das ist dann doch auch mir zu viel Staat.
Beschäftigt man sich mit dem niederländischen Schulsystem, stoßen einem als erstes die Bezeichnungen »schwarze« und »weiße« Schulen auf. Die sogenannten schwarzen Schulen werden überwiegend von Einwandererkindern (allochthone Bevölkerung) besucht und die weißen Schulen in erster Linie von klassischen Niederländern (autochthone Bevölkerung). Die unterschiedlichen Förder- und Finanzierungssysteme des niederländischen Schulwesens lasse ich außen vor. Beeindruckend fand ich die Aussage: »Wir sprechen alle Sprachen, die unsere Kinder auch sprechen.« 40 % des Kollegiums der Schule, in der wir waren, sind selbst Einwanderer oder Nachkommen von Einwanderern. Es gibt einen Elterncoach, der durch das Jugendamt eingesetzt wird und mit erheblichen Vollmachten ausgestattet ist, Eltern Auflagen zu erteilen. Halten die Eltern sich nicht daran, dann werden die Sozialleistungen gekürzt. Außerdem werden die Zeugnisse in den Grundschulen nur direkt an die Eltern ausgehändigt. Da sich das Schuljahr in Trimester aufteilt, haben Lehrkräfte und Eltern mindestens dreimal jährlich Kontakt. Auf meine skeptische Nachfrage, wie viele Eltern denn tatsächlich kommen, das Zeugnis abzuholen, antwortete man mir: »Na, alle.« Als ich mit noch ungläubigerer Miene fragte, ob denn das wirklich zutreffe und was denn passiere, wenn Eltern nicht kämen, um das Zeugnis abzuholen, war die Antwort schon leicht beleidigt: »Ja, natürlich stimmt das, denn solange das Zeugnis in der Schule liegt, solange erhalten die Eltern keine Sozialunterstützung.« Auf eine weitere Nachfrage, wie oft man dieses System denn schon angewendet habe, hieß es: »Zu Beginn einige Male, dann aber gar nicht mehr.« Nachdem die Eltern gemerkt hatten, dass es diese Sanktion gibt und sie tatsächlich praktiziert wird, war das Problem gelöst. Also, manchmal reicht es schon vollkommen, wenn man in der Zielgruppe um die Sanktionen weiß, um zu verhindern, dass man davon Gebrauch machen muss.
Bei uns ist es aber inzwischen so, dass einem die gesellschaftliche Ächtung gewiss ist, wenn man nur mit dem Gedanken an eine Sanktion spielt. Staatliche Repressionen zur Stimulanz von regelkonformen Verhaltensweisen sind bei uns uncool, weil alle Menschen doch gut sind und alle Bürger verantwortungsbewusst.
Zurück zur Schule in Rotterdam. Es gibt dort obligatorische Elternzentren, an denen von 8.00 bis 16.00 Uhr Lehrer oder Sozialarbeiter für die Eltern zur Verfügung stehen. Ein Sportverein betreut die Schüler in der Schule und im benachbarten Kindergarten. Grundschule und Kindertagesstätten arbeiten sehr eng zusammen.
Im Bereich der Ausbildung und Arbeit stoßen wir wieder auf das gleiche Prinzip. Es gibt ein dichtes Netz von Angeboten und Hilfestellungen, immer gekoppelt mit der Erwartung an den Hilfeempfänger, dass er mitmacht und seine Kompetenzen aktiv einbringt. »Machst du nicht mit, dann kannst du von uns auch keine
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