Neukölln ist überall (German Edition)
wird. Der Zug scheint abgefahren. Die städtebauliche Strategie lautet inzwischen, das Nebeneinanderleben so zu gestalten, dass es nicht zu einer Radikalisierung kommt und das Ausbrechen von Rassismus verhindert wird. In London gibt es ein ausgesprochenes Problem mit der Jugendkriminalität. Alljährlich fasst die Londoner Polizei etwa 30 Kinder, die ein Tötungsdelikt begangen haben.
Nach dem rosaroten Tupfer des Departments wurden wir dann doch recht schnell auch mit anderen Einschätzungen konfrontiert. Die Vertreter der Verwaltung eines Londoner Bezirkes diskutierten mit uns völlig ungeniert und nicht unter dem Mantel der Vertraulichkeit über die in ihrem Gebiet vorhandenen No-go-Areas und Straßengangs. Insbesondere das Sicherheitsgefühl und das Vertrauen in die staatlichen Institutionen leiden unter den Verhältnissen. Auf unsere Fragen nach den Konsequenzen trafen wir alte Bekannte aus Rotterdam wieder: Netzwerke bilden, klare Ansagen machen und Ausstiegshilfen anbieten.
Auch bei einem Meeting zur Sicherheitslage in einem Polizeirevier oder mit dem gesamten Führungsstab der Metropolitan Police machten die Sicherheitskräfte keinen Hehl daraus, dass sie in bestimmten Stadtgebieten erhebliche Probleme haben, die öffentliche Sicherheit und Ordnung aufrechtzuerhalten. Hierbei fielen immer wieder die Namen Tottenham und Brixton, wo die karibische und schwarz-afrikanische Bevölkerung lebt, Tower Hamlets, wo Einwanderer aus Bangladesch und dem Sudan die größten Migrantengruppen bilden, und Whitechapel als Domäne des Hindukusch.
Zwei Programme sind mir nachhaltig in Erinnerung geblieben. Zum einen das Safer-Neighbourhoods-Programm der Metropolitan Police in London. Ihm liegt die Überlegung zugrunde, dass viele Menschen der Polizei aus Angst vor Rache nicht alle Informationen geben, die sie haben. Eigentlich möchten sie ihr Wissen schon loswerden, aber eben im Hintergrund bleiben. Die Nachbarschaftspolizei bietet eine solche Möglichkeit. Sie ist es, die im Kiez ständig unterwegs ist, das Gespräch pflegt, hinhört, was geredet wird, und nachfragt. Die so gewonnenen Informationen gibt sie dann an den regulären Polizeiapparat weiter. Der eigentliche Informant bleibt somit im Hintergrund. Die Safer-Neighbourhoods-Teams sind fest angestellt und auch an einer Uniform erkennbar. Allerdings verfügen sie nur über eingeschränkte Befugnisse. Sie greifen bei leichteren Straftaten ein und stellen Bußgeldbescheide aus, zum Beispiel für Fahren auf Gehwegen oder nicht beseitigten Hundekot. Ihr Tätigkeitsfeld ist mit dem unserer Ordnungsämter vergleichbar.
Zum anderen sind die Volunteer Police Cadets ein sehr beachtliches Projekt. Das sind polizeibekannte ehrenamtlich tätige junge Leute zwischen 14 und 21 Jahren, die sozusagen als »Nachwuchspolizisten« verpflichtet werden. Im Jahre 2008 gab es rund 1200 solcher Polizeischüler. Auch sie erhalten eine Uniform. Ziel dieser Maßnahme ist es, Jugendliche, die aufgefallen sind, zu begleiten und ihnen »den Weg aufzuzeigen, wie sie anständige Bürger werden können«. Als Einschub sei erwähnt, dass Jugendstrafverfahren in London im Schnitt 72 Tage dauern. Diese Police Cadets werden im Übrigen auch eingesetzt, um die Nachbarschaftsteams zu verstärken und dort für andere Jugendliche sichtbar zu sein. Die Police-Cadets-Teams waren zur Zeit unseres Besuchs noch im Aufbau. Wenn das Programm planmäßig fortgeführt wurde, müsste es heute mehrere Tausend Jugendliche geben, die in London als Police Cadets eingesetzt werden. Das ist schon recht ehrgeizig.
In England bilden die öffentlichen Schulen bei weitem nicht die gesamte Bandbreite der Bürgerschaft ab. Insbesondere das weiße Bürgertum schickt, sofern es das Schulgeld aufbringen kann, seine Kinder vorwiegend auf Privatschulen. Die öffentlichen Schulen haben somit eine Überlast an Schülern aus prekären Familienverhältnissen zu verkraften. Es gibt an den Schulen ein sogenanntes Board of Governance. Das ist ein Gremium, das aus Schulleitung, Eltern und anderen Unterstützern besteht, die ehrenamtlich die Schulverwaltung beraten und ihr zur Seite stehen. Wenn Eltern die Zusammenarbeit mit der Schule und den Lehrern verweigern, dann erhalten sie zu Hause Besuch, und es drohen Sanktionen bis hin zu Bußgeld und Inhaftierung. Selbst staatliche Schulen bieten in London Geschlechtertrennung an. Diese Möglichkeit wird von Muslimen sehr gerne wahrgenommen.
Jeder staatlichen Schule ist ein Polizeibeamter, der
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