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Neukölln ist überall (German Edition)

Neukölln ist überall (German Edition)

Titel: Neukölln ist überall (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinz Buschkowsky
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Industriestadt unterlag einem dramatischen Bevölkerungsrückgang seit den 1940er Jahren. Mit den Umstrukturierungen der Wirtschaft ging ein gleich gelagerter Prozess in der Bewohnerschaft einher. Die Zahl der Einwohner sank von über einer Million auf aktuell knapp 600   000.
    Die Arbeitslosenquote lag mit 6,5   % zum Zeitpunkt unseres Besuches durchaus im Rahmen, ist aber jetzt auf 11,8   % angestiegen. 13   % der Stadtbevölkerung sind ethnische Minderheiten. Etwa 1400 Migranten kommen jährlich nach Glasgow. Glasgow hat sich mit einer Vereinbarung aus dem Jahr 2000 verpflichtet, zunächst fünf Jahre lang Wohnungen für Asylsuchende zur Verfügung zu stellen – 2000 für Familien und 500 für Alleinstehende. Der Vertrag wurde noch verlängert, aber dann aufgrund etlicher Betrugsfälle seitens der Vermieter Ende 2010 gekündigt. Diese Maßnahme diente dem Stopp des Bevölkerungsrückgangs. Durch die Zuwanderung und die Asylbewerber ist eine starke Verjüngung der Glasgower Bürgerschaft eingetreten. Die Hoffnung ist nun, dass sich dies auch positiv auf die Geburtenrate auswirkt.
    In rund 220 Schulen mit 66   000 Schülerinnen und Schülern ist ein gutes Drittel der Jugendlichen auf eine Schuluniformbeihilfe und kostenlose Schulspeisung angewiesen. Kriminalität ist in Glasgow ein besonders gravierendes Problem. Die Mordrate ist doppelt so hoch wie in London, und die Gefahr, als Jugendlicher ermordet zu werden, ist in Schottland siebenmal größer als in vergleichbaren Gebieten Frankreichs. Ein Stadtgebiet wurde uns als besonders problematisch geschildert. Dort gab es etwa 55 Gangs. Die jüngsten ihrer rund 800 Mitglieder waren acht Jahre alt. Es ist davon auszugehen, dass sie jeweils mit mindestens einem Messer bewaffnet sind. Ach, du mein glückliches, friedliches Neukölln.
    Hochengagiert arbeitet die Stadt dem Einwohnerschwund mit der Anwerbung von Migranten entgegen. Die Frage, die man sich hier stellt, lautet weniger, was bringt wer mit, sondern eher, wo bekommen wir jemanden her. Das führt zwangsläufig dazu, dass die Erwartungen und die qualitativen Anforderungen herabgeschraubt werden. Trotz des eher geringen Anteils von zugezogenen Einwanderern an der Gesamtbevölkerung sollte man die Heterogenität der Bevölkerung nicht unterschätzen. In der Mittelschule, die wir besuchten, sprach man zum Beispiel 47 Sprachen. Auf unserem Programm stand der Besuch einer Grundschule, einer Mittelschule, einer Moschee, einer Seniorentagesstätte für Einwanderer sowie ein Gespräch mit einem Jugendrichter und dem Oberbürgermeister. Doch der Reihe nach.
    Schon in der Grundschule begegnen wir bei den Problemen alten Bekannten. Die Kinder kommen teilweise mit sehr schlechten Sprachkenntnissen in die Schule. Als Antwort hat die Schule, an der insgesamt 20 Lehrkräfte unterrichten, immerhin vier Lehrer eingestellt, die Urdu, die Hauptsprache der Pakistani, beherrschen. Ein pragmatischer Politikansatz. Könnte Berlin sich abschauen.
    Als eine ausgesprochene Besonderheit wurde uns das Verhalten der Roma beschrieben, wobei immer deutlich zwischen alteingesessenen und neu zugezogenen Roma differenziert wurde. Roma-Kinder kommen für gewöhnlich ohne jegliche englische Sprachkenntnisse zur Schule. Die Sprachausbildung für Einwanderer scheint in dieser Volksgruppe nicht zu funktionieren. Der Schulbesuch ist unauffällig und regelmäßig. Allerdings nur bis zum Übergang in die Mittelschule. Bei diesem Wechsel geht ein beachtlicher Teil der Kinder verloren, weil die Eltern nicht mehr bereit sind, die Kinder in die Schule zu schicken. Sie haben im Alter ab zehn Jahren offensichtlich im Familienverband andere Aufgaben zu erfüllen. So, wie wir es verstanden haben, stehen die Roma-Familien am Rande, wenn nicht außerhalb der schottischen Gesellschaft. Sie verstehen viele Regeln und Abläufe der schottischen Gesellschaft nicht. Das beginnt schon beim Schulwesen.
    Verblüfft hat uns ein völlig entspannter Umgang mit dem Islam. Ich weiß gar nicht, ob man es überhaupt einen Umgang, also sprich, eine gewollte bestimmte Art des Miteinanderlebens nennen kann, so selbstverständlich erschien uns das Miteinander. Man muss hierzu jedoch wissen, dass es eine lange Erfahrung bis tief in das vorige Jahrhundert hinein mit den Traditionen und Lebensweisen der Muslime in Glasgow gibt. Bei unseren Gesprächen in der Moschee und in der Seniorentagesstätte trafen wir auf Muslime, die eine Werteordnung offenbarten, die man durchaus als

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