Neukölln ist überall (German Edition)
Hearing zusammen, bestehend aus ehrenamtlich tätigen Bürgern, die dann über die zu treffenden Maßnahmen beraten und entscheiden. Klagt die Staatsanwaltschaft ein Kind an, so entscheidet der Amtsrichter, ob er den Fall an das Children’s Hearing verweist oder ob sich das neu eingerichtete Jugendgericht damit befassen soll. Die Jugendgerichtsbarkeit, die wegen des ständigen Anwachsens der Jugenddelinquenz eingeführt wurde, befindet sich in Schottland noch in einer Testphase. Wenn der Angeklagte geständig ist, soll die Verfahrensdauer zehn Tage nicht übersteigen. Plädiert er auf nicht schuldig, gilt eine 40-tägige Frist. Zum Zeitpunkt unseres Besuches war noch nicht entschieden, ob die Jugendgerichtsbarkeit in ganz Schottland eingeführt werden soll oder nicht.
Auch in Glasgow sind Arbeitslosigkeit, Alkoholkonsum und Verwahrlosung die wichtigsten Ursachen für Jugenddelinquenz. Im Übrigen geht man von der Prämisse aus, dass das Lebensalter zwischen 14 und 24 Jahren das der Kriminalitätsepisoden ist. Danach wird geheiratet, das Nest gebaut, und aus allen werden liebe Familienväter. » We are scottish « eben.
Wir stießen auf ein Novum mit dem Namen Glasgow Community Safety Services. Es handelt sich um einen Sicherheitsdienst, in dem 500 (!) Mitarbeiter aus unterschiedlichsten Organisationen arbeiten. Ihr Auftrag ist es, asoziales Verhalten zu stoppen. Glasgow soll eine sichere und saubere Stadt werden. Hierzu sind in der Stadt sage und schreibe 420 Kameras montiert, die an jeder Ecke den öffentlichen Raum überwachen. Kamerawagen patrouillieren unentwegt durch die Straßen und zeichnen alles auf. Es ist schon ausgesprochen gewöhnungsbedürftig, im Restaurant zu sitzen, an seinem Steak zu säbeln und plötzlich einen Zuschauer zu haben. Auf einen langen Galgen gesteckt, blinzelte von außen eine Kugel durch das Fenster. Das war so ein Kamerawagen, der vorbeifuhr, anhielt und durch die Fenster des Pubs nachschaute, was sich drinnen wohl abspielt. Ich verspürte nicht den Drang, das System nach Neukölln zu entführen.
Diese Institution ist nicht nur für die Videoüberwachung der ganzen Stadt zuständig, sondern sammelt auch Daten über auffällige Bürger, aus denen dann Profile und Konzepte entwickelt werden. Teams, bestehend aus Polizisten, Sozialarbeitern, Lehrern und ehrenamtlichen Helfern, treffen die Entscheidung, wie im Einzelfall weiter zu verfahren ist. Erfasst sind etwa 2500 Jugendliche in 200 Straßengangs. Wie in den Niederlanden finden Hausbegehungen statt, und es gibt einen ständigen Datenaustausch zwischen den einzelnen Behörden. Auch vom Einzelfall losgelöste Hausbegehungen sind keine Seltenheit. Auffällige Bürger, aber speziell Jugendliche werden vorgeladen, um ihnen zu demonstrieren, dass sie nicht mehr anonym agieren, sondern enttarnt sind. Die Organisationseinheit besitzt aber keine Sanktionsmöglichkeiten. Es geht lediglich darum, Daten zu sammeln und mit psychischem Druck auf Einzelpersonen einzuwirken. Diese Vorgehensweise erschien mir den Gefährdungsansprachen unserer Polizei sehr ähnlich.
Beeindruckend war der Umgang mit einem sozialen Brennpunkt. Die Bevölkerungsstruktur dort hat sich so entwickelt, dass von 12 000 Einwohnern etwa 5000 vor kurzem zugezogene Roma sind. Die Situation in dem Stadtteil ist ausgesprochen schwierig. Trotzdem ist Graffiti im Straßenbild nicht sichtbar, da es sofort beseitigt wird. Es liegt kein Müll herum, selbst die Innenhöfe werden regelmäßig gereinigt. Die Nachbarschaft wird motivierend in die Pflicht genommen, sich ehrenamtlich zu engagieren. Für den flüchtigen Betrachter waren die geschilderten Verwerfungen nicht erkennbar. Die Aktivierung der Bürgerschaft gelingt offenbar in hohem Maße. Dieses Projekt erinnerte mich stark an unser Quartiersmanagement aus dem Programm »Soziale Stadt«.
Eher unterhaltend war unser Kennenlernen der Diversity Unit der örtlichen Polizei. Sie versucht sich in der aktiven Bekämpfung der 200 Gangs. Uns wurde ein Videofilm vorgeführt, in dem wir sahen, wie sich Hunderte von Menschen eine Straßenschlacht vom Feinsten lieferten. Kein Kinofilm kann das besser zeigen. Es ging da richtig zur Sache. Unsere Fassungslosigkeit ob der Bilder amüsierte die Polizeibeamten. Sie erklärten uns, dass sich bereits die Väter und Großväter der jungen Leute in der gleichen Straße in den denselben Gangs geprügelt hätten. Das entspreche eher einem gewissen Entwicklungsstand junger Männer. Zu diesem
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