Neukölln ist überall (German Edition)
gehörten in Glasgow eben die traditionellen Straßenprügeleien. Na ja, was dem einen sein Fußballstadion, ist dem anderen seine Straßenschlacht.
Auf die Grundzüge des Zusammenlebens von Muslimen und Nichtmuslimen bin ich bereits am Anfang des Berichts über Glasgow eingegangen. Die Details des Alltags haben wir dann in der imposanten zentralen Moschee und in einer Seniorenfreizeitstätte diskutiert. Die Hauptmoschee verfügt über einen Gebetsraum für 2000 Menschen. Der Eingangsbereich wird permanent von Kameras überwacht, die Bänder werden unbegrenzt aufbewahrt und der Polizei auf Anforderung zur Verfügung gestellt. Die Moschee versteht sich als kooperativer Partner der Stadtregierung und als Zentrum der organisierten muslimischen Bürgerschaft mit einem starken Fokus auf der Sozialarbeit für die Muslime. In einzelnen Stadtteilen, in denen der Anteil der Muslime an der Bevölkerung bei bis zu 40 % liegt, gibt es die gleichen Reibungsverluste wie in Neukölln. Hier versteht sich allerdings die Moschee sehr viel stärker als bei uns als eine Institution des Ausgleichs und der Mediation. Die Rolle als Opferanwalt konnte ich hier so gut wie gar nicht beobachten.
Die Moschee machte auf mich den Eindruck eines großen Nachbarschaftsheimes. Es war ein ständiges Kommen und Gehen, und es wurden Sozialdienstleistungen wie Essensausgabe, Beratungen, Seniorengruppen nachgefragt. Natürlich gab es die gleichen Probleme wie in Neukölln beispielsweise in Erziehungsfragen: Teilnahme am Biologieunterricht, Schwimmen, schon in der Grundschule Kopftuch tragende Mädchen oder fastende Kinder unter zehn Jahren. Die Stadtverwaltung kümmert sich nicht zentral darum. Sie überlässt es der Moschee, eine Linie auszugeben, oder eben auch jedem Einzelnen, seine zu finden.
Der Besuch einer Seniorenfreizeitstätte für Muslime und die Diskussion mit den Alten verlief ebenfalls völlig unaufgeregt. Das einzige, was ich schmunzelnd hiervon berichten kann, ist der Umstand, dass in der Freizeitstätte ein großes Plakat hing. Thematisch ging es um Rassismus und Judenfeindlichkeit. Auf die Frage, ob es ein Problem damit im Stadtviertel gebe, lautete die Antwort: »Nein, aber für dieses Programm gibt es gerade Geld von der EU .«
Unser Eindruck war, dass die Durchsetzung gesellschaftlicher Normen in Glasgow nicht zu den Schwerpunkten der Stadtverwaltung gehört. Der lockere Umgang mag auf den ersten Blick liberal und kulturverbindend sein, er gibt jedoch das Grundprinzip einer gemeinsamen Gesellschaft auf. Vielleicht steckt hierin auch eine der Ursachen, dass man sich nur noch mit totaler Überwachung der Stadt und Polizeistationen auf den Schulgeländen der Probleme infolge des Auseinanderdriftens der Bevölkerung zu erwehren weiß. Ich halte es für falsch, die Beliebigkeit zum tragenden Element des gesellschaftlichen Zusammenlebens werden zu lassen.
Glasgow steckt mitten im Prozess der Umstrukturierung seiner Bevölkerung. Vor zehn Jahren betrug der Anteil der Einwandererkinder in den Schulen 7 %. Im Jahr 2009 waren es bereits 16 %. Man rechnet mit einem kurzfristigen Anwachsen auf 20 %. Ich glaube, dass diese Erwartungen in kürzerer Zeit übertroffen werden. Schon heute beobachtet die Stadtverwaltung, dass sich ganze Stadtquartiere verändern und der Anteil der ursprünglichen schottischen Bevölkerung dort dramatisch abnimmt. Man betrachtet dies jedoch nicht als Katastrophe. Allerdings wird die Zunahme von Verwahrlosung, Prostitution und Kriminalität mit Sorge registriert.
Eine überraschend andere Perspektive vermittelte uns am letzten Tag der Bürgermeister beim Abschlussgespräch. Ich hoffe, die Schotten haben uns die Verblüffung nicht zu deutlich angesehen. Der Tenor seiner Ausführungen lautete: »Es gibt einen Graben zwischen den Moslems und uns.« Er verwies auf die Entwicklungen in England, auf Städte wie London und Birmingham und die aus seiner Sicht dort entstandenen schwierigen Verhältnisse bzw. großen sozialen wie kulturellen Verwerfungen. In diesem Teil des Gesprächs galt das Vergleichsverbot mit englischen Städten ausnahmsweise einmal nicht. Mein Eindruck war, dass der Bürgermeister schon sehr deutlich die Zukunft und die reale Entwicklung der Stadt vor Augen hatte. Allerdings fehlten ihm eventuell die Rezepte, um das Rad anzuhalten. Ansätze einer planmäßigen, gesteuerten Integrationspolitik haben wir vermisst. Das System Glasgow setzt auf die traditionelle Kompetenz der Muslime in der
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