Neukölln ist überall (German Edition)
fröhlich, sie haben ihr Auto oder ihren Motorroller und kommen scheinbar gut über die Runden. Ein Pater erklärte uns, dass die Solidarität untereinander, insbesondere in den Familien, sehr hoch ist. Hinzu kommt ein legerer Umgang mit der Kriminalität. Sie ist ein akzeptierter Zustand. In diesem Zusammenhang fiel bereits sehr bald nach unserer Ankunft zum ersten Mal das Wort Camorra. Es wurde zur geflügelten Erklärung für eigentlich alles. Die Camorra ist für viele Neapolitaner die einzig verlässliche Größe.
Die organisierte Kriminalität als verlässliche gesellschaftliche Größe? Nun, wer nicht mehr zur Schule gehen will, kann bei der Camorra eine Berufskarriere beginnen. Man fängt als Parkplatzeinweiser an einem bestimmten Ort in der Stadt an, der dann das eigene Betriebsgelände ist. Später ist der Aufstieg zum Drogendealer oder zum Drogenmanager einer bestimmten Region durchaus möglich. Das verspricht ein lukratives Einkommen. Die Kinder und Jugendlichen werden von den enormen Geldbeträgen geblendet, von denen sie in diesem Milieu umgeben sind. 200 Euro Verdienst pro Tag selbst für niedrigste Handlangertätigkeiten beeindrucken schon, und dann erst die 30 000 Euro im Monat, wenn man es zur Persönlichkeit im Drogenhandel gebracht hat.
Die Camorra ist keine Familie, wie wir sie aus amerikanischen Kriminalfilmen kennen. Es sind miteinander konkurrierende Gruppen, die in einzelnen Stadtteilen wirken. Ein starker Machtfaktor ist sie aber allemal. Die offiziellen Stellen Neapels bezeichnen die Camorra auch als »Gegenstaat«. Ein Begriff, den ich vor meinem Besuch niemals gehört hatte.
Zur Schulausbildung der Kinder gehört die Wahrheit, dass über 30 % die Schule vorzeitig ohne Abschluss verlassen. Uns gegenüber machten die italienischen Gesprächspartner den sehr wechselhaften Umgang mit der Schulpflicht und dem Analphabetismus im 19. Jahrhundert dafür verantwortlich. Das Laisser-faire der damaligen Zeit wirke bis heute nach. Es gibt in Neapel keine staatlich finanzierte Jugendarbeit. Die einzelnen Sozialprojekte der Kirche oder von Wohlfahrtsorganisationen lässt die Camorra in Ruhe. Offensichtlich sind sie zu kleinmaschig und zu unbedeutsam, als dass es lohnen würde, sich damit abzugeben.
Es gab bisher keine direkte Einwanderung nach Neapel. Dies mag seine Begründung in zwei Faktoren haben. Zum einen gibt es in Italien kein Sozialsystem, wie wir es kennen. Es lohnt sich also nicht zu bleiben. Als einzige Form des Sozialtransfers erhalten Arbeitnehmer mit niedrigem Einkommen eine kleine Familienbeihilfe, die bei einem Kind knapp 170 Euro im Monat beträgt und bei zwei Kindern 320 Euro. Alleinerziehende erhalten eine Zulage auf die Familienleistung. Im fünf Monate dauernden Mutterschutz erhalten Frauen 80 % des letzten Arbeitseinkommens. Der zweite Aspekt ist der, dass es, wie erwähnt, ein sehr eng geknüpftes Netz der organisierten Kriminalität gibt. Diese sorgt nachdrücklich dafür, dass Konkurrenten schnell die Lust verlieren, sich niederzulassen. Beide Dinge waren bisher sicherlich Ursachen dafür, dass Neapel nur als eine Art Transitstation in den Schengenraum betrachtet wurde. In jüngerer Zeit stellt man in Neapel jedoch fest, dass immer mehr Migranten bleiben. Nach den uns gegebenen Daten hat sich dieser Anteil von Einwanderern von 20 % auf 60 % gesteigert. Insbesondere der starke Zuzug von Roma-Familien bereitet den Neapolitanern Sorge. Der Migrantenanteil liegt heute in Neapel bei 2 %. Gemessen an unseren Verhältnissen ist das kaum der Rede wert. Derzeit wird versucht, die Migrantenkinder mit Schulbussen in der Stadt zu verteilen, um eine Konzentration an einzelnen Orten zu verhindern. Es gibt ein Projekt »Recht auf Schule und Zukunft«. Roma-Eltern erhalten eine finanzielle Zuwendung, wenn sie ihre Kinder zur Schule schicken. Finanzier ist das Innenministerium.
Aufgrund dieser Historie der Einwanderung erschien uns logisch, dass Italien erst jetzt anfängt zu begreifen, was Migranten bedeuten, die nicht nur durchreisen, sondern bleiben. Plötzlich entsteht die Frage, wie man erreicht, dass sich die Einwanderer an die herrschende Lebensweise anpassen. Bei diesem Prozess stehen die Italiener aber noch ganz am Anfang. Für alle sozialen Probleme wird üblicherweise der Gegenstaat verantwortlich gemacht. Dass Migration eine Herausforderung ist, die soziologische Konsequenzen hat, scheint noch nicht durchgängig ins Bewusstsein gedrungen zu sein. Die
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