Neukölln ist überall (German Edition)
erwachsen ja aus der Gesellschaft heraus völlig neue Kräfte, um den demographischen Herausforderungen zu begegnen. Na gut, ich weiß auch nicht, ob es so oder so sein wird. Vermutlich werde ich es noch nicht einmal beobachtend erleben können. Doch step by Step.
Die Zeitzäsuren, die in Bevölkerungsprognosen regelmäßig gesetzt werden, sind 2030, 2050 und 2100. Mir geht es so, dass mir Jahreszahlen, die in der Zukunft liegen, viel weiter entfernt erscheinen als Ereignisse, die genauso weit in die Vergangenheit reichen. 18 Jahre zurück schreiben wir das Jahr 1994. Die Wiedervereinigung Deutschlands ist schon vier Jahre Geschichte. Viele erinnern sich an Episoden aus dieser aufregenden Zeit sehr plastisch und erzählen bewegt von ihren Erlebnissen, als wären sie gestern geschehen. Von heute aus gesehen ist das Jahr 2030 ebenfalls nur 18 Jahre entfernt, aber bis dahin scheint es eine Ewigkeit, und man denkt sich: »Wer weiß, ob ich das überhaupt erlebe.« Ich glaube, das ist ein Grund dafür, warum die eigentlich doch häufigen und nicht misszuverstehenden Hinweise zur demographischen Entwicklung in der Masse eher distanziert oder gar schulterzuckend zur Kenntnis genommen werden. Dabei sind die Vorausberechnungen alles andere als langweilig oder bedeutungslos. Sie verdienen schon ein bisschen mehr Emotionen.
Dass sich die Zahl der Einwohner in einem Land verringert, ist im Prinzip nicht dramatisch. Auch nicht bei uns. Immerhin ist Deutschland im Vergleich mit anderen Ländern ein dicht besiedeltes Gebiet. Ein bisschen mehr Luft und Bewegungsspielraum für alle würden sicher als wohltuend empfunden werden. Voraussetzung für eine gesunde Schrumpfung wäre allerdings, dass sich der Abbau gleichmäßig vollzieht. Das heißt, dass sich die Alterspyramide nicht verändert. An dieser Stelle aber liegt der Hase im Pfeffer. Denn genau das ist nicht der Fall. Es ist vielmehr so, dass sich die Zahl der Älteren sprunghaft nach oben bewegt und die Zahl der Jüngeren dramatisch absackt. Das ist die völlig logische Konsequenz aus der banalen Feststellung, dass Mütter, die nicht geboren werden, keine Kinder kriegen.
In der Demographie spricht man in diesem Zusammenhang vom »Altenquotienten«. Dieser Begriff bezeichnet die Zahl der über 65-Jährigen im Verhältnis zur Zahl der 15- bis 65-Jährigen oder analog auch die Zahl der über 60-Jährigen in der Relation zur Zahl der 20- bis 60-Jährigen. Nach den Berechnungen des Statistischen Bundesamts wird sich von 2008 bis 2050 die Zahl der 20- bis unter 60-Jährigen um 12 bis 15 Millionen verringern, und die Zahl der unter 20-Jährigen wird sich sogar um fünf Millionen vermindern. Im schlimmsten Fall würden dann bis zu 20 Millionen weniger Menschen unter 60 Jahren in Deutschland leben!
Die Zahl der über 60-Jährigen hingegen wird um sieben bis acht Millionen zunehmen. Im sogenannten Altenquotienten liest es sich dann so, dass 1998 dieser Wert bei 38,6 % lag, er schon 2010 auf 48,3 % anstieg und im Jahre 2030 bereits 81,3 % erreichen wird. Ab 2050 bewegt er sich dann nur noch in Größenordnungen über 90 %.
Der Jugendquotient hingegen, also die Anzahl der unter 20-Jährigen auf 100 Menschen im Alter von 20 bis zu 60 Jahren, sinkt immer weiter. Er betrug 1998 immerhin noch 38 %. Er sank 2010 auf 33 % und wird 2050 in der Größenordnung von 32 % verharren. Auch in den Folgejahren überschreitet der Jugendquotient niemals die Größe von 30 %. Diese auf den ersten Blick nüchternen Zahlen zeigen mit schonungsloser Brutalität, wie unsere Gesellschaft vergreisen wird. Betrug 1970 das Durchschnittsalter im Land 34 Jahre, so liegt es heute schon bei 44 Jahren. Ein bisschen schnoddrig formuliert, kann man auch sagen, dass so etwa in 20 Jahren jeder Erwerbstätige einen Rentner ernähren muss. Der Einfachheit halber sollte er ihn mit zu sich nach Hause nehmen. Im Jahre 2000 haben sich noch knapp vier Erwerbstätige einen Rentner geteilt.
Natürlich muss es immense Auswirkungen auf das Sozialsystem, also die Renten-, Kranken- und Pflegeversicherungen haben, wenn die Zahl der Alten derart zunimmt. Die Menschen werden älter, die Medizin wird besser, aber auch teurer, und je dichter der Mensch an sein Lebensende kommt, desto höher werden die Kosten für die Lebenserhaltung. Im Jahre 1970 waren die damals acht Millionen Rentner für die gut 20 Millionen Erwerbstätigen mit 11,4 Milliarden Euro ausgesprochen preiswert. Im Jahre 2010 mussten 26 Millionen
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