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Neuland

Neuland

Titel: Neuland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eskhol Nevo
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aus.
    Außer ihr lagen alle in ihrer Abteilung im tiefen Schlaf der Unwissenden. Ab und zu drehte sich einer um, und seine Koje knarrte. Hin und wieder murmelte auch jemand verirrte Wörter, die sich zu keinem Satz zusammenfügten. Lili zog sich die dünne Decke über und schloss die Augen, doch ihr Herz war wach: Und wenn ich wüsste – sie konnte sich dieses Gedankens nicht erwehren –, dass der Glauben der Seeleute wahr ist und das Schicksal unserer Schiffsreise schon besiegelt ist, wenn ich wüsste, dass morgen mein letzter Tag ist, dass dies wirklich die letzte Gelegenheit ist, alle meine Träume zu leben, bevor sie mit mir untergehen – würde ich auch dann noch vor Fima fliehen?

Inbar
    träumte von Nacktschnecken.
    Diese Mollusken ohne Haus klettern an ihrem Körper hoch. Sie versucht, sie vorsichtig abzunehmen. Doch jedes Mal, wenn sie eine los ist, kommen zwei neue nach. Sie weiß, um sie wirklich loszuwerden, muss sie sie umbringen, und dafür müsste sie Salz auf sie streuen, doch das bringt sie nicht übers Herz.
    Tagsüber war Lima für sie sogar noch beklemmender als nachts. Schon drei Monate haben wir die Sonne nicht mehr gesehen, erklärte ihr eine Kellnerin in einem Restaurant nahe dem Hotel. Smog, die Wolken hier verbinden sich mit den Abgasen aus den Fabriken, da kommt kein Lichtstrahl durch. An deiner Stelle würde ich schnell weg von hier. Wohin?, fragte Inbar. Nach Cuzco, schlug die Kellnerin vor, da scheint die Sonne. Da sind die ganzen Gringos. Gibt es einen Nachtbus dorthin? Gibt es schon, erklärte die Kellnerin, aber der ist dir als allein reisender Frau nicht zu empfehlen. Weißt du, da sind schon Sachen vorgekommen.
    Inbar kaufte einen Fahrschein für den Morgenbus nach Cuzco und zog dann noch ein bisschen durch die Straßen. An jeder Ecke ein Revierpolizist. Die Apotheke verkaufte ihre Medikamente durch ein Gitter. Eine Gruppe von Männern mit leeren Bierflaschen warf ihr Blicke zu, als wollten sie sie vergewaltigen. Es war ein Fehler gewesen, die ausgeschnittene Bluse anzuziehen.
    Einmal, erinnerte sie sich, hatte eine Frau in der Sendung von Dr. Adrian von ihrem Boss erzählt, der sie sexuell belästige. Unter den Produktionsassistentinnen, die in der Senderegie arbeiteten, ergab sich ein Gespräch, bei dem herauskam, dass jede von ihnen – immerhin sechs Frauen – schon mindestens einmal in ihrem Leben belästigt worden war.
    Wäre ich mit Ejtan hier, würde ich mich sicherer fühlen.
    Auf einem improvisierten Markt beim Busbahnhof verkauften sie Adapter. Sie wusste, sie müsste einen kaufen und Ejtan anrufen, erstand stattdessen aber Tränengas. Vielleicht würde sie es einemperuanischen Vergewaltiger in die Augen sprühen, und dann würde auch sie endlich weinen.
    Vor den Blicken der Männer zog sie sich ins Hotel zurück und erinnerte sich, dass sie eigentlich das Hotel wechseln wollte, doch sie hatte keine Kraft mehr dazu.
    Schimmelgeruch schlug ihr entgegen, als sie die Lobby betrat. Was machte sie in diesem Loch? Diese ganze Reise kam ihr plötzlich so dermaßen out of context vor, völlig unangemessen.
    Packing today? Der Mann an der Rezeption lächelte sie an.
    Ohne zurückzulächeln, nahm sie den Schlüssel zu ihrer Schlafkammer entgegen.
    Sie legte sich aufs Bett, mit Smog im Herzen, und schaute auf die Kritzeleien an der Decke. Plötzlich erkannte sie Wörter, die sie gestern nicht wahrgenommen hatte. Diagonal zum zehnten Punkt von »Anleitung zum Umgang mit Angstattacken« stand: The Wandering Jew Tour .
    Etwas unterhalb der Überschrift eine gezeichnete Geige. Und darunter, wie auf T-Shirts von Rockbands, eine Liste von Orten und Daten. Firenze 1411, Toulouse 1457, München 1606, Paris 1777, London 1934, Rio de Janeiro 2004, Lima 2006.
    Sie holte ihr Tagebuch heraus und notierte die Daten. War das einfach nur Quatsch, oder stand etwas dahinter? Sie konnte ihre Mutter anrufen, die wusste das bestimmt. Aber sie hatte keinen Adapter. Warum hatte sie keinen gekauft? Warum hatte sie verdammt noch mal keinen Adapter gekauft? Warum rief sie Ejtan nicht an? Das war nicht in Ordnung. Was war denn mit ihr los?
    Und was ist mit der wandernden Jüdin?, schrieb sie in ihr Heft. Warum sind es immer Männer, die wandern? Kain, Odysseus, Marco Polo, Don Quichotte. Fehlt den Frauen in der DNA das Wandergen? Oder ist Wandern für sie zu gefährlich, weil sie so leicht zu verletzen sind? Sind sie deshalb verurteilt, immer im Zelt zu bleiben, zu Hause, in Ithaca?
    Aber vielleicht,

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