Neuland
schrieb sie in ihr Heft, und ihre Hand zitterte dabei, hatte der Wandernde Jude eine unsichtbare Begleiterin anseiner Seite. Nessia hieß sie, von »menussa« – auf der Flucht. Nessia hatte keine Angst, dass man ihr etwas antun würde; sie machte dem Wandernden Juden in seinen bitteren Stunden Mut, als er aufgeben wollte und nicht mehr glaubte, dass er seine Strafe je ausgebüßt haben und nach Hause zurückkehren würde.
*
Nachts kommen sie wieder zu ihr, die Nacktschnecken. Aber diesmal ist es noch schlimmer. Sie rutschen von ihrer Brust über die Schultern in Richtung Hals und von dort zum Gesicht, mindestens sieben oder acht sind auf ihrem Gesicht, und dann gleiten sie in ihren Mund, sie versucht, sie auszuspucken, schafft es aber nicht, und sie rutschen ihr in den Hals, eine nach der andern, bis da ein Klumpen entsteht, und plötzlich kann sie nicht mehr atmen, sie kriegt keine Luft.
Als sie aufwachte, klopfte ihr Herz so stark, dass sie meinte, es springe ihr gleich aus dem Leib. Ihre Hände zitterten, sie klapperte mit den Zähnen, das linke Augenlid zuckte. Sie wusste, sie musste aufstehen, raus aus diesem Zimmer, aber sie war wie gelähmt, und außerdem, wo sollte sie hin? Wer kein Zuhause hat, für den ist die Reise Zuhause , wollte sie vor Morgengrauen in Nessias Namen an die Wand schreiben. Doch nun war sie völlig panisch, mitten im Sturz, es gab keine Ecken oder Kanten, an denen sie sich hätte festhalten können, alles, was Halt hätte bieten können, bewegte sich, der Halt Papa bewegte sich, der Halt Ejtan bewegte sich, der Halt Joavi war nicht mehr da. Was würde Dr. Adrian sagen, wenn sie ihn jetzt in der Sendung anriefe? Was tat das zur Sache? Was verstand der überhaupt? Sie suchte an der Wand die »Anleitung zum Umgang mit Angstattacken«. Denn es sah ganz danach aus, als hätte sie jetzt eine Angstattacke. Aber die Anleitung war verschwunden. Wie war das möglich? Vor zwei Stunden war sie doch noch da gewesen. Ihre Augen suchten sie immer wieder, doch es sah aus, als wäre die ganze Wand vollgeschrieben mit Auftrittsterminen des Wandernden Juden, dessen Tournee wegen großerNachfrage des Publikums auf weitere Städte ausgedehnt worden war. Am Morgen bist du nicht mehr hier, versuchte sie sich zu beruhigen, aber wie bringst du diese Nacht hinter dich? Es war, als drückte ihr eine alte Wäscheklammer mit so einer Metallfeder die Luftröhre zu, ihr Herz raste immer schneller, wenn du nichts unternimmst, um das zu stoppen, wird es zerspringen, sie holte das Tagebuch aus der Tasche, riss hastig die Kappe vom Kugelschreiber und begann, Nessia zu schreiben. Das war nicht geplant, im Gegenteil, seit Joavi erschien ihr die Anmaßung eines Erzählers, die tiefsten Bewusstseinsschichten seiner Gestalten zu kennen, nicht mehr vertretbar. Wie konnte sie ahnen, was im Kopf eines anderen vorging – wenn sogar die Leute, die ihr in der Realität am nächsten waren, etwa jüngere Geschwister bei der Armee, kranke Seelengebiete hatten, die sie nicht sah –, aber Nessia wartete nicht. Nessia entstand einfach aus sich selbst. Zeile für Zeile. Die ganze Nacht.
Nessia
Vielleicht ist Nessia ein Vogel, etwa eine Schwalbe, die ihren Schwarm verloren hat, und vielleicht hat sie ihn mit Absicht verloren. Immer auf die Formation zu achten hat ihr irgendwann gestunken, so ist sie kurz gelandet, um sich am Flügel zu kratzen, und hat, als die andern sich weit genug entfernt hatten, eine andere Richtung eingeschlagen.
Wenn Nessia unterwegs ist, ist ihr Lieblingswort: vielleicht.
Nicht, dass sie nicht auf die Uhr schauen würde (manchmal muss man ja einen Zug bekommen oder ein Zimmer bis zu einer bestimmten Uhrzeit räumen).
Aber wenn Nessia an einen neuen Ort kommt, sucht sie nicht als Erstes einen Schlafplatz. Zuerst, weiß sie, muss sie sich auf eine Bank setzen, unter einen Baum (an jedem Ort gibt es zumindesteine Bank unter einem Baum), die Augen schließen und den Blättern lauschen, die ihr die Chronik des Ortes ins Ohr rascheln.
Wenn Nessia unterwegs ist (manchmal braucht es ein paar Tage, bis sie es merkt), ist es wie früher, wenn sie als kleines Mädchen einen Hang hinuntergerollt ist: Ab einem bestimmten Moment dreht der Körper sich von selbst, man muss sich nicht mehr anstrengen.
Nicht, dass Nessia sich nicht manchmal fragt: »Was tust du hier eigentlich?« – Aber sie stellt diese Frage nie missbilligend, sondern wie jemand, der sich die wahren Gründe seiner Reise in Erinnerung ruft.
Nessia
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