Neuland
Beerdigung von Zippora Ruth hatte Fima seine Blicke nicht von ihr gelassen.
Man hatte Lili nachts in die Krankenstation gerufen, und sie hatte die Tote sofort identifiziert: Es war die ausgemergelte Kameradin, die auf der Zugfahrt Schokoladenstückchen verteilt hatte. Schon da hatte sie so schwach ausgesehen und blass. Sie ist bereits krank an Bord gekommen, erklärte der Arzt. Sie hat ihre Krankheit versteckt, weil sie nach Eretz Jisruel wollte. Lili hörte seine Worte undeutlich, wie durch Wassermassen. Sie sah zum ersten Mal einen toten Menschen. Als ihre Mutter starb, war sie noch klein gewesen und man hatte sie ferngehalten, von ihrem Sterbebett und auch von ihrem Grab. Und jetzt stand sie im Angesicht dieser absolut endgültigen Blässe. Sie bekam weiche Knie. In den ersten Tagen war sie, wie viele andere Passagiere, seekrank gewesen und hatte gelernt, diesen inneren Aufruhr mit Zitronenscheiben zu beruhigen. Doch den Schwindel, der sie beim Anblick der toten Zippora Ruth ergriff,konnte keine Zitrone beruhigen. Es kamen noch mehr Leute in die kleine Krankenstation, auch Fima, nicht zu glauben, die Mundharmonika schien seinen Adamsapfel zu berühren. Sie zwang sich, aufrecht zu stehen; er sollte ihre Schwäche nicht bemerken.
Der Kommandant ergriff das Wort: Die Tote hat keine Bekannten oder Freunde an Bord. Deshalb haben wir euch, Vorsitzende der Kulturausschüsse der einzelnen Einwanderergruppen, zusammengerufen, um an ihrer Beisetzung teilzunehmen. Sie wird in einigen Minuten im Schutze der Dunkelheit stattfinden. Gewiss wollt ihr wissen, warum wir keine richtige rituelle Beerdigung machen. Die Gründe sind folgende: Unter Seefahrern gibt es den Glauben, dass der Tod eines Passagiers in den ersten Tagen der Fahrt nichts Gutes für das Schicksal des Schiffes verheißt. Wenn die griechischen Matrosen, die hier auf der Futuro angeheuert sind, von Zippora Ruths Tod erfahren, werden sie sich womöglich bei der nächsten Gelegenheit absetzen.
Zu Beginn der zweiten Nachtwache marschierte ein dicht gedrängtes Grüppchen schweigend übers Deck; über ihnen schwebte eine Bahre. Als sie nah an die Reling kamen, versuchten sie, sie abzusetzen. Im starken Wind hatte einer der Träger diesen Befehl nicht gehört, und für einen Moment meinte Lili, die Bahre würde kippen und die eingewickelte Leiche abwerfen, doch dann fanden die vier Männer das Gleichgewicht wieder und stellten die Bahre sicher auf die Planken.
Der Kommandant hielt eine Trauerrede mit verhaltenem Pathos. »Wie Moses auf dem Berg Nebo, war es Zippora nicht vergönnt, Eretz Jisruel mit eigenen Augen zu sehen.« Danach sprach er vom Mut der Verstorbenen; ihre Krankheit habe sie nicht von dem Versuch abhalten können, nach Eretz Jisruel zu gelangen und ihren Traum zu verwirklichen. Obwohl alle Freunde von ihrer Hachschara bereits mit früheren Schiffen gefahren waren und sie hier an Bord niemanden kannte.
Ich habe sie gekannt, ich habe gesehen, wie sie Schokolade verteilte, um anderen den bitteren Abschied von zu Hause zu versüßen, wollte Lili sagen, doch ein anderer Kamerad, der eine Kippa auf dem Kopf trug, begann schon, das Kaddisch zu sprechen.
Danach sagte jemand, war es tatsächlich Fima?, mögest du in Frieden ruhn. Auf ein Zeichen wurde die Bahre über die Reling gehoben, und der tote Körper glitt ins Wasser. Nur ein dumpfes Aufschlagen war zu hören, wie ein Schlag in einen Boxsack.
In der Stille, die sie alle umgab, spürte Lili Fimas Blick in ihrem Nacken brennen. Sie wollte sich umdrehen und ihm eine runterhauen. Auch jetzt noch? Hast du denn gar keinen Anstand? Unsre Kameradin ist gestorben, und du stierst immer noch mit deinem schmutzigen Blick? Gut, dass du jetzt wenigstens nicht Mundharmonika spielst. Ein Komödiant bist du! Warum ziehst du überhaupt hinauf nach Eretz Jisruel ? Das ist kein Ort für solche Artisten wie dich. Da heißt es arbeiten, das Land bebauen, ernten, und die Sonne knallt einem auf den Kopf. Du hättest in Warschau bleiben sollen, Fima, dort die kurbes unterhalten, das passt besser zu dir.
So wollte sie zu ihm reden. Doch sie schwieg und drehte sich auch nicht um, aus Angst, zur Salzsäule zu erstarren. Sehr schnell ging sie an der Spitze der kleinen Gruppe, allen voraus mit vorgerecktem Hals, auf der Flucht vor Fima und dem dumpfen Aufschlag der Leiche auf dem Wasser, der in ihrem Kopf nachklang.
Als sie in den Bauch des Schiffes kam, legte sie sich in ihre Koje und zog noch nicht einmal die Schuhe
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