Neuland
Denn ein Traum muss immer unmöglich, unerreichbar bleiben. Verstehst du, was ich meine, oder red ich jetzt dummes Zeug?
Dori nickte leicht, kaum merklich. Und obwohl er kein Wort sagte, spürte sie, dass er verstand. Das Verstehen wehte von ihm zu ihr herüber. Es streichelte sie, wie eine milde Brise.
Danach fingen alle an zu spucken, erzählte sie weiter. Wirklich alle! In die Spucktüten, aus dem Fenster, einer auf den andern. Die Flugzeuge dort sind sehr klein, und der Wind ist sehr stark. Das war wirklich wie in Stand by me , an der Stelle mit dem Esswettbewerb. Eine Kotz-Orgie, erinnerst du dich an die Szene?
Klar.
Binnen fünf Minuten waren wir wieder gelandet. Eigentlich dauert so ein Flug eine halbe Stunde, aber die Passagiere haben den Piloten angefleht, den Rundflug abzubrechen. Mit den Nazca-Linien war’s vorbei. Die Leute wollten wieder festen Boden unter den Füßen.
Moment mal, sagte Dori, eines versteh ich nicht. Die Nazca-Linien sind doch in Peru … und du bist aus Peru nach Tumbes gekommen … dann fährst du jetzt ja noch mal zurück? Wieso das?
Oh, Mister Dorrri – sie ahmte Alfredo nach –, das ist dein Problem. Dass du versuchst, die Welt nach Ursache und Wirkung, Wirkung und Ursache zu erfassen.
Aber –
Wer die Musik der Welt spielt, das sind die Götter. Wir können nurrr wählen, wie wirrr darauf tanzen.
Er lachte über ihre Imitation. Ein überraschendes, kehliges, tiefes Lachen, und wegen dieses Lachens hätte sie ihm gern die Szene erzählt, als sie die Frau am Flughafen in Berlin gefragt hatte, wohin der nächste Flug gehe, und sie Teheran gesagt hatte, aber sie erzählte es nicht, denn sie wusste, das würde nur neue Fragen nach sich ziehen, etwa warum sie nicht nach Israel habe zurückfahren wollen, und sie würde antworten müssen, denn er hatte ja auch ihre Fragen ausführlich beantwortet, und dann würde sie wieder zur Schwester des toten Bruders werden, und das wollte sie nicht, nicht mit ihm und nicht jetzt –
Sag mal, begann er seine Frage, nachdem sie Lichtjahre geschwiegen hatten, meinst du nicht auch, dass Alfredo uns mit seiner Antwort anschmiert? Hast du nicht das Gefühl, er verheimlicht etwas?
Ich weiß nicht, sagte sie. In den bald zwei Wochen, in denen ich hier rumfahre, hab ich schon gemerkt, dass die Einheimischen hier einen etwas anderen … Begriff von Wahrheit haben.
Deutest du an, dass sie … lügen?
Ich sage lieber: Sie sind flexibel. Sie passen ihre Wahrheit den sich ändernden Umständen an.
Ich weiß nicht – er rutschte auf seinem Stuhl herum, als tue ihm etwas weh, als habe er Rückenschmerzen –, ich sollte mich auf diesen Alfredo verlassen können. Er soll mir doch helfen, meinen Vater zu finden. Aber ich hab die ganze Zeit dieses ungute Gefühl, dass er etwas vor mir verheimlicht.
Wir alle verheimlichen die ganze Zeit etwas, konstatierte sie, und damit das Gespräch nicht mit dieser deprimierenden Feststellung endete, fügte sie hinzu: Meinst du nicht auch?
Dori
schwieg lange (wie lange hatte er keine solchen Gespräche mehr geführt , die seine Seele stärkten. Mit Roni waren die Wortwechsel immer knapp, verkürzt, weil sie viel zu tun hatte, wegen dem dauernden Zirpen ihres Handys und auch weil sie beide die Illusion hatten, zwischen ihnen bestünde ein so tiefes Verständnis, dass es nicht notwendig wäre, in die Details zu gehen, die Schlagzeilen würden schon reichen. Und mit den Freunden traf er sich nicht mehr, seit die ersten Kinder kamen, und diese Entfernung von ihnen – anfangs hatte er sich eingeredet, sie sei nur eine gewisse Phase in ihrer langjährigen Freundschaft –, diese Entfernung grub sich Woche für Woche tiefer ein, schon bald war es unangenehm anzurufen, weil man so lange nicht mehr miteinander gesprochen hatte. Und mit den Schülern … mit denen musste man aufpassen, auch wenn ab und zu ein Junge darunter war, mit dem man gern reden würde, musste man sich in Acht nehmen, sonst brachte sie das durcheinander, ganz zu schweigen von den Schülerinnen, das kam überhaupt nicht infrage. Und die anderen Lehrer, das heißt die Lehrerinnen, bei denen musste man aus anderen Gründen auf der Hut sein: Man durfte nicht ihren Neid wecken, keine Nebeneinkünfte erwähnen und nicht mit seinen hervorragenden Bewertungen bei der Schülerbefragung am Ende des Schuljahrs herumwedeln, sonst würden sie einen in die Ecke stellen. Vor ein paar Jahren hatte es eine sehr humorvolle Lehrerin für Literatur gegeben, mit der er
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