Neuland
sich einige Male nett unterhalten hatte, doch schließlich ertrug sie das kränkende Lehrergehalt nicht mehr. Sie zog mit ihrem Mann nach San Francisco, und ihm blieben seinewichtigen Worte im Halse stecken. Früher war er sie bei seiner Mutter losgeworden, aber jetzt … So war es dazu gekommen, dass sein wichtigster Gesprächspartner im letzten Jahr, beschämend, das zuzugeben, sein Sohn Neta war. Obwohl Neta sensibel und für sein Alter schon sehr weit war (und kreativ! Und gutherzig! Und geradlinig! Wie konnte es sein, dass keiner das sah?), gab es doch Nuancen, die er nicht verstand, Dinge, die man ihm nicht erzählen konnte, aber vielleicht, vielleicht konnte man ja sowieso niemandem mehr etwas Bedeutendes sagen, vielleicht waren solche Gespräche aus der Welt verschwunden, und geblieben waren nur die Nachrichten, SMS, und nur er beharrte noch darauf, wie ein schon bald ausgerotteter Dinosaurier, ihnen nachzutrauern.)
Ah …, er erwachte aus seinen Gedanken, um nicht den Faden zu verlieren, du hast völlig Recht, wir alle … verheimlichen etwas. Du siehst ja, sogar mein Vater hat ein Geheimnis gehabt, das er jahrelang vor uns verborgen hat.
Nessia
weiß nicht, was heute für ein Tag ist. Ob Dienstag oder Donnerstag. Aber sie kann sehr wohl sagen, ob es ein guter Tag zum Fischen ist oder zum Bogenschießen auf Äpfel auf Bauernköpfen oder ein guter Tag für Sex mit verheirateten Männern, die ein Kind haben.
Man irre sich nicht in Nessia: Sie ist alles andere als eine Träumerin. Ihr Blick ist nicht nachdenklich. Ihr Gang nicht schwebend. Sie trägt keine Kleider aus Taft. All ihre Sinne sind gespannt und lauern auf das nächste Vergnügen.
Von allen Sternzeichen ist Nessia ausgerechnet Jungfrau. Im Horoskop schaut sie sich aber immer das Sternzeichen der Fische an, weil es besser zu ihr passt.
Überhaupt liebt Nessia Wasser. Lass sie an der Felswand untereinem der Iguazú-Wasserfälle stehen und das schäumende Brausen betrachten. Gib ihr einen kleinen Pool zwischen den Felsen vom Kibbuz Gaash oder auf den Bahamas.
Einige behaupten, unter den Kleidern habe Nessia Kiemen.
Einige behaupten, sie habe eine kriminelle Vergangenheit.
Kriminelle Vergangenheit hin oder her, sie würde jetzt ihre Hand auf Doris Hand legen, während er von dem Besuch auf der Farm von El Loco und von dem Geheimnis seines Vaters, das er dort entdeckt hat, erzählt. Danach würde sie ihn sanft in ihr Zimmer führen, ihm Hemd und Hose ausziehen und auch seinen Schmerz und ihn in ihrem Bett erfreuen. Ohne zu verweilen und ohne zu zögern. Denn warum sollte man sich vor der Vergangenheit oder der Zukunft fürchten, wenn doch nur die Gegenwart gegenwärtig ist?
Inbar
log Dori an, sie wäre müde, und zog sich zurück in ihr Zimmer, dann log sie Ejtan per SMS an, sie würde sich nach ihm sehnen, und schließlich schlug sie ihr Tagebuch auf und schrieb Nessia weiter, denn Verliebtsein zu schreiben war so viel weniger gefährlich, als sich zu verlieben. Danach legte sie sich aufs Bett und sah plötzlich an der Decke die Zeichnung der Geige, die sie schon im Hotel in Lima und in dem Hostel im Heiligen Tal gesehen hatte, und darunter wieder Orte und Jahreszahlen: Firenze 1411, Toulouse 1457, München 1606, Paris 1777, London 1934, Rio de Janeiro 2004, Lima 2006, Pisac 2006, Ica 2006.
Ica, das war hier – sie erinnerte sich an eines der Schilder unterwegs. 2006, das war jetzt. Er musste ganz in der Nähe sein, der Mann mit der Geige. Morgen früh lade ich Dori auf mein Zimmer ein und zeige ihm, was da geschrieben steht, dachte sie sich. Morgens ist es weniger gefährlich als abends. Abends könnte sieihn verführen oder sich verführen lassen, und sie kennt sich, die Samantha von Sex and the City ist sie nicht gerade, und wenn sie mit jemandem schläft, dann bindet sich eine-der-vielen-Frauendie-sie-ist, und sofort meldet sich bei ihr der Wunsch, dass er nur ihr gehöre. Nein, sagte sie sich, biss ins Zaumzeug, morgens ist eindeutig sicherer.
*
Sie träumte wieder von dem Knaben.
Er war auf ein Brückengeländer geklettert und wollte in einen Fluss springen, der aussah wie der Urubamba. Doch dann erschien Reuven, ihr neuer Bruder, und legte ihm die Hand auf die Schulter . In Wirklichkeit hätte das nicht passieren können, denn der Knabe war groß und stand auf dem Brückengeländer, und Reuven war vier, aber im Traum war Reuvens Arm lang genug, und er legte seine Hand auf die Schulter des Knaben und überzeugte ihn,
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