Neuland
verweigerte ihnen die Anlauferlaubnis und scheuchte sie weiter, wie man mit der Hand Fliegen verscheucht. Die Essensvorräte waren aufgebraucht, das Wasser ebenso. Eines Morgens fuhren sie an Felsen vorbei, von denen zwei Wasserfälle hinabstürzten, zwei Wasserfälle mit Süßwasser, ein Überfluss an Süßwasser, und einige Leute gingen hinunter in den Schlafraum, weil die den Anblick des Wassers in der Kehle nicht ertrugen.
Dann verschwanden plötzlich Gegenstände aus den Lagerräumen, aus der Krankenstation, aus den Koffern der Passagiere. Es wurde getuschelt, mit Fingern auf Verdächtige gezeigt, und Lili wusste nicht, ob sie das in ihrem Blatt ansprechen sollte oder nicht (vierzig Jahre nach der Schiffsreise, erinnert sie sich plötzlich, haben sich die noch lebenden Einwanderer im Kibbuz Gal-On getroffen, und sie hatten Ascher Isenbaum, den man damals mit einer in der Krankenstation gestohlenen Flasche Wein erwischt hatte, noch immer nicht verziehen, und keiner war zu ihm hingegangen und hatte ihn zur Begrüßung umarmt).
Ich weiß nicht, ob wir diese Diebstähle erwähnen sollen, beriet sie sich mit Fima. Wenn wir darüber schreiben, bringen wir andere vielleicht noch auf dumme Gedanken, aber sie zu ignorieren wäre Vogel-Strauß-Politik. Dann lass uns doch auf die Vorfälle eingehen, schlug Fima vor, und die Sanktionen erwähnen, die über Diebe verhängt werden, und wir geben noch ein paar Sätze des religiösen Vertreters dazu, von wegen »Du sollst nicht stehlen« und so. Eine gute Idee, dachte Lili, und sah Fima plötzlich mit anderen Augen. Das soll dir eine Lehre sein, Lili Freud. Du glaubst schon selbst, was die Leute von dir erzählen, dass du Herz und Nieren der Leute zu prüfen verstehst, dass du eine besondere Begabung dafür hast. Vielleicht soll dieser Fima dich ja lehren, dass auch du dich täuschen kannst und dass einer ein verrückter Spaßvogel und gleichzeitig auch ein sehr heller Kopf sein kann.
Zumal Fima in all den Stunden, die sie zusammen über ihren Papieren gebeugt saßen, es nie bei ihr versucht hatte. Esther hatte wohl Recht gehabt. Sobald er verstanden hatte, dass sie keine leichteBeute war, hatte er von ihr abgelassen. Sie war erleichtert, dass sie vor ihm nicht mehr dauernd auf der Hut sein musste, und erlaubte sich, während der Arbeit auch Dinge von sich zu erzählen, etwa, wie gerne sie schrieb und dass sie nicht im Traum daran gedacht habe, dass sich ausgerechnet bei der Bordzeitung eines illegalen Einwandererschiffs die erste Gelegenheit dazu ergeben würde. Er lachte sie nicht aus, weil sie ihr armseliges Blättchen als Zeitung bezeichnete, und erzählte, wie sehr sein Vater mit ihm geschimpft habe, als er wegen des Musizierens sein Torastudium zu vernachlässigen begann, und wäre nicht sein Großvater gewesen, der der Kantor in der Synagoge war und ihn ermutigte, weiter Musik zu machen, und ihm auch heimlich das nötige Geld zusteckte, um die verschiedenen Lehrer zu bezahlen, hätte er das Niveau, auf dem er jetzt spiele, nie erreicht. Das sei zwar, zugegeben, nicht besonders hoch, aber es ermögliche ihm immerhin, die Leute ein bisschen aufzumuntern.
Und deine Mutter?, fragte sie, was hält sie von deinem Spielen?
Meine Mutter ist tot, antwortete er. Die Art, wie er das sagte und dabei den Blick abwandte, zeigte, dass er dieses Thema nicht vertiefen wollte.
Warum spielt ihr in den letzten Tagen eigentlich nicht mehr?, fragte Lili, um das Thema zu wechseln.
Pessja, unser Klarinettist, ist deprimiert und steht gar nicht mehr aus seiner Koje auf, und ohne Klarinette funktionieren Klezmer eben nicht.
Was deprimiert ihn denn so?
Das weiß keiner.
Er weigert sich, es uns zu sagen.
Soll ich versuchen, mit ihm zu reden?, fragte sie vorsichtig.
Pessja, so stellte sich heraus, sehnte sich nach den Cremeschnit
ten seiner Mutter. Schon wenn er das Wort nur aussprach, floss Lili das Wasser im Mund zusammen. Und ich sehne mich nach dem süßen Möhrensalat, den mein Vater immer für uns gemacht hat, erzählte sie ihm, denn sie wusste, das Reden über Gaumenfreuden kann bei Juden manchmal ein erstarrtes Gespräch beleben, wie einAppetizer, und fuhr fort, jede ihrer Schwestern habe eine andere Lieblings-Nachspeise und ihr Vater habe immer versucht, es allen recht zu machen.
Bei uns kriegen alle Geschwister unter der Woche Apfelmus, und eine Cremeschnitte gibt es nur am Schabbat – Pessja sprach im Präsens, und ohne es zu merken, zog er seine Klarinette unter der Decke
Weitere Kostenlose Bücher