Neuland

begegneten. Oft verschwanden auch Arbeiter, nachdem er sie bezahlt hatte, obwohl sie noch nicht fertig waren. Beim Börsenkrach hat er eine Menge Geld verloren, und mehrmals musste er den Bauprozess stoppen.
    Mein Vater auch.
    Ja, das hat die Arbeiten für mindestens zwei Jahre lahmgelegt – aber einmal im Monat, wie ein Metronom, hat er Ze’ela, meineSchwester, mitgenommen, die Baustelle in Mevasseret zu besuchen. Meine Mutter ist nie mitgefahren. Für sie hat das Haus nie existiert. Sie hat zu ihm gesagt, ich liebe Jerusalem so sehr, und Mevasseret … ist zwar nicht weit, aber eben nicht Jerusalem, sondern ein Vorort. Er fragte sie, was für ein Jerusalem meinst du denn? Von deinem Jerusalem sind nur ein paar kleine Gettos säkularer Juden übrig geblieben, die sich in ein paar Vierteln noch halten, und sie antwortete ihm: Und genau deshalb darf man hier nicht wegziehen, und zitierte ihm dann die Zeile von Chava Alberstein: Ich werde Jerusalem nicht aufgeben, bis es die Augen aufschlägt.
    Warte, und dich? Hat er dich nicht eingeladen mitzukommen?
    Eingeladen schon, aber ich wollte nicht.
    Warst du denn nicht neugierig?
    Die Wahrheit ist …, das erscheint mir jetzt auch etwas merkwürdig, aber als Kind war es völlig selbstverständlich für mich: Wenn es einen Disput zwischen meinen Eltern gab, dann war ich auf Mutters Seite.
    Und, wie hat er den Bau dann zu Ende gebracht?
    Er hatte keine Wahl. Sein Partner in diesem Zweifamilienhaus hatte seine Hälfte längst bezogen und drängte ihn fertigzubauen, es gehe ja nicht, dass ein Haus Wand an Wand mit einem Rohbau stehe. Da hat mein Vater einen Kredit aufgenommen, die fehlende Summe hingelegt, und binnen drei Monaten stand das Haus. Danach wollte er meine Mutter mitnehmen, es anzuschauen. Sie sagte, sie könne ihm aber nichts versprechen, und er sagte: Nurik, denk einfach, dass du ins Museum gehst. Auch meine Schwester ist damals mitgefahren.
    Und du?
    Ich habe gesagt, ich hätte Besseres zu tun, und habe abgewartet, bis sie zurückkommen, um zu sehen … wie die Sache ausgeht.
    Und?
    Meine Mutter kam zurück und lief einige Tage wie ihr eigener Geist durch die Wohnung, bis Vater klein beigab und sagte: Genug, Nurik, ich kann das nicht länger mitansehn. Wir müssen uns janicht jetzt entscheiden. Wir können das Haus auch in der Zwischenzeit vermieten, in Ordnung?
    Und das war’s dann. Diese Zwischenzeit dauert jetzt schon dreißig Jahre.
    Und du, hast du das Haus mittlerweile gesehen?
    Erst jetzt, nachdem er nach Südamerika gefahren ist, bin ich einmal hingefahren, um die Miete abzuholen.
    Und, wie sieht es aus?
    Richtig schön. Wirklich etwas ganz Besonderes. Handarbeit. Ich hab da erst mal gestanden und zweimal die Adresse überprüft. Ich konnte es nicht glauben, dass er bereit gewesen war, für sie einen solchen Rückzieher zu machen.
    Sie hatten wohl wirklich eine ganz außergewöhnliche Beziehung, deine Eltern. Vielleicht war es deshalb so schlimm für ihn …, ich meine … als sie …
    Gestorben ist, das ist in Ordnung, du kannst das ruhig sagen.
    Sie schwiegen ein paar Minuten. Salsa-Rhythmen aus dem Radio füllten die Fahrerkabine. Sie passten so gar nicht zu diesem Moment, und passten irgendwie doch.
    Weißt du, sagte sie schließlich, wenn manche Leute von jemand Nahem reden, der gestorben ist, sagen sie, ein Glied ihres Körpers fehle ihnen. Aber es ist genau umgekehrt: Du bekommst etwas dazu. Eine Trauer-Drüse in der Gegend des Zwerchfells. Ich bin mir sicher, dass es die wirklich gibt, diese Drüse. Ich glaube, man hat sie nur deshalb beim Ultraschall bis heute nicht entdeckt, weil sie sich sehr geschickt hinter anderen Organen versteckt.
    Plötzlich klang sie für ihn wie ein kleines Mädchen und sah auch so aus, mit diesen Lippen, bei denen man nicht sagen konnte, ob sie sich so zusammenziehen, um zu küssen, oder weil Inbar gekränkt war. Er war sich immer noch nicht sicher, ob er sie nach ihrer Trauer fragen durfte, und während er sich überlegte, ob Nichtfragen schlimmer war als Fragen oder umgekehrt, schloss sie die Augen und schlief ein.
    Nach ein paar Minuten sank ihr Kopf an seine Schulter. Alle seine Muskeln spannten sich auf einen Schlag an; er wusste nicht, was er machen sollte. Schon elf Jahre ruhte nur Ronis Kopf an seiner Schulter. Und plötzlich anderes Haar, ein anderer Hals, ein anderes Gewicht.
    Er warf Alfredo einen Blick zu, wollte wissen, ob er bemerkt hatte, was sich anbahnte, doch der war mit einem weiteren Anruf