Neuland
würde auch sie mit dabei sein. Ja, vielleicht würde noch diese Nacht das Ende der Wanderschaft und der dauernden Übelkeit bringen.
Doch nach wenigen Minuten machte auf der Futuro ein neues Gerücht die Runde: Der Führer des Motorboots hatte über Sprechfunk gemeldet, dass große Mengen Wasser durch undichte Nähte am Rumpf in ihr Boot eindrangen, die aufgegangen waren, während es vom Schiff geschleppt wurde. Die Kommandanten überlegten nun, ob sie weiterfahren oder umkehren sollten. Das Wasser im Boot steige immer höher, wurde aus dem Funkraum berichtet; es reiche den Leuten schon bis zu den Knien. Die sollen weiterfahren, sagte Fima zu Lili oder zu sich selbst, es ist nie gut, umzukehren.
Eine große Menge drängte sich an der Reling und sah mit wachsender Besorgnis, wie das Boot, das kehrtgemacht hatte, wieder am Horizont auftauchte. Als es näher kam, lag es so tief, dass es eher wie eine Nussschale aussah als wie ein Boot. Seine Passagiere standen mit angstverzerrten Gesichtern mit den Beinen im Wasser. Die Menge an Deck verfolgte das Geschehen wie ein Theaterstück, als wäre das Meer ein Bühnenbild aus Aluminiumfolie, als hörte man die zerberstenden Wellen durch den Lautsprecher eines Grammophons. Lili verspürte einen unbändigen Drang, in die Luft zu schießen, diese Trennwand zwischen den Zuschauern und dem Geschehen einzureißen. Ihre Freunde anzuschreien, sie sollten aufhören, so zu glotzen. Doch man konnte nichts tun, nur abwarten, bis das Boot nahe genug war, um die Leute wieder an Bord zu holen. Die Evakuierung war schon fast zuende, da wurde Pessja bewusstlos. Fima ließ Lili allein und eilte nach unten, um seinen Freund heraufzutragen. Fima versuchte, seine Hände unter Pessjas Achseln zu schieben, doch noch in seiner Bewusstlosigkeit hielt Pessja seinen Klarinettenkasten fest umklammert, und Fima fand keinen Punkt, wo er ihn zu fassen bekam. Das Boot kippte immer mehr. Außer ihnen beiden war jetzt niemand mehr an Bord. Ein Schauer lief Lili über den Rücken. Genau so hatte sie sich gefühlt, als sie auf dem Marktplatz von Warschau an den bein- und armamputierten Invaliden vorübergegangen war – sie wollte ihren Blick von ihnen losreißen, konnte es aber nicht. Ihr Herz schlug Fima, Fima, Fima. Fima entriss Pessja mit Gewalt sein Instrument und warf es ins Wasser. Dann hievte er ihn sich auf den Rücken wie ein Lamm und kletterte mit ihm die Strickleiter hinauf zum Schiff.
Ein paar Minuten danach sank das Boot mit einem leisen Pfeifen in den Wellen, und mit ihm ging auch die Hoffnung unter, noch diese Nacht das ersehnte Ziel zu erreichen. Kurz darauf erhielten sie Anweisung, sich schleunigst von der Küste Eretz Jisruels zu entfernen, um nicht von britischen Patrouillenbooten entdeckt zu werden. Und als sei das nicht schon genug, hörten die Funker zu dieser Zeit noch einen weiteren, sehr beunruhigenden Funkspruchwechsel: Die Deutschen konzentrierten große Truppenaufkommen an der polnischen Grenze. Hitler stritt ab, nach Polen einfallen zu wollen. Aber wer wollte ihm glauben? Und ihre Familien waren doch dort, auf der anderen Seite der Grenze, Brüder und Schwestern, ihr Vater, der auf dem Gehweg vor dem Hotel auf sie gewartet hatte, mit seiner Karakulmütze auf dem Kopf, bis es dunkel geworden war, und der ihr vor dem Abschied gesagt hatte, es ist nicht schlimm, wenn du nicht noch mal zu mir herauskommen kannst, wir treffen uns ja sowieso in ein paar Monaten in Eretz Jisruel , und er hatte sich vorgebeugt und sie auf die Stirn geküsst und gelacht, früher musste ich mich zu dir hinunterbeugen, um dich auf die Stirn zu küssen, und jetzt, schau Lilinka, muss ich mich auf die Zehenspitzen stellen –
Kein Mitglied der Bordzeitungsgruppe kam zu dem Treffen, das für diesen Abend angesetzt war. Lilis Finger waren kraftlos und zitterten. Was sollte man an so einem verdammten Tag schreiben?
Trotzdem zwang sie sich, über die Ereignisse zu berichten und wenigstens einen Lichtpunkt darin zu finden: Das Boot hätte auch mit all den Leuten an Bord sinken können, schrieb sie. Uns ist ein Wunder geschehen. Und radierte es wieder aus, zerriss das Blatt und begann von Neuem. Sie zerriss auch das zweite Blatt, und so ging es bis spät in die Nacht, bis sie schließlich eine angemessene Formulierung fand, die nichts beschönigte, die Leute aber auch nicht in die Verzweiflung trieb. Doch noch immer hatte sie den Eindruck, dass sie log. Denn was vermochten Worte an so einem Tag, an dem alles
Weitere Kostenlose Bücher