Neuland
Informationen, die ihre Sorgen ein bisschen vertreiben konnten. Am Morgen war die Wasserration pro Kopf verdoppelt worden, und das Wasser war auch nicht mehr rostbraun gewesen. Nun glitten ihre Augen entspannt über die Buchstaben, und sie lächelten.
Nachts schien der Vollmond, und das Klezmerorchester spielte an Deck besonders fröhliche Melodien.
Lili holte ihr schönes Kleid mit dem hellblauen Kragen aus demKoffer (nicht für ihn mach ich mich schön, sondern für mich!). Es war von der langen Reise ziemlich verknittert, und sie versuchte, seine Falten auf eine Art zu glätten, die ihre Mutter immer angewendet hatte: Sie rieb die Handflächen aneinander, bis sie heiß waren, und drückte sie dann wie ein Bügeleisen auf den Stoff.
Bei ihr klappte es nicht so gut wie bei ihrer Mutter –
Doch ihr Körper sehnte sich schon nach dem Kleid, und so schlüpfte sie hinein, legte eine passende Kette an und ging an Deck.
Sie spürte Fimas Blicke auf ihrem Körper, doch brannten sie nicht mehr. Im Gegenteil, sie waren ihr angenehm. Einige Männer forderten sie zum Tanz auf. Sie lehnte ab. Stattdessen tanzte sie mit Esther wie Mann und Frau. Was würde sie tun, wenn Fima sein Spiel unterbrechen und sie zu einem Walzer auffordern würde? Sie wusste es nicht. Wie konnte man überhaupt irgendetwas mit Gewissheit sagen. So schloss sie die Augen und gab sich der Musik hin. Besonders dem Klang der Mundharmonika. Sie hatte schon vergessen, wie gerne sie tanzte. Was alles möglich war, wenn man tanzte, wie luftig leicht die Gedanken dann waren, und dieser angenehme Schwindel, so dass man beinah strauchelte und fiel. Aber nein, sie strauchelte nicht und fiel auch nicht.
*
Und jetzt steht sie in ihrer Küche auf, in ihrer Wohnung im dritten Stock des Mietshauses im Ramot-Remez-Viertel der Hafenstadt Haifa – und tanzt. Die Musik vom Schiff klingt in ihrem Kopf; sie bewegt ihre Füße auf einer einzigen Fliese, über deren Grenzen geht sie nicht hinaus, und stellt sich vor, wie Fimas Hände sie an der Hüfte halten und sie herumwirbeln. Das alles dauert wenige Sekunden, länger tragen ihre Knie sie nicht – doch die Augen hält sie auch danach noch geschlossen, als sie wieder auf ihrem Erinnerungsstuhl sitzt.
*
Drei Tage nach dem »Ball« versuchten sie das erste Mal, an Land zu gehen. Ein großes Motorboot näherte sich rasch, setzte sich hinter ihr Schiff und ließ sich von ihm schleppen, um bald als Landungsboot zu dienen. Als sie nah genug waren, die Hügel des Gelobten Landes deuteten sich am Horizont schon an, wurde das Zeichen gegeben, und die ersten Passagiere begannen, in das Boot hinunterzusteigen.
Die Ersten waren vor allem Kranke, Schwache und Kinder.
Jede Gruppe hatte die Namen derer nennen sollen, die schnellstmöglich an Land gebracht werden mussten. Darüber gab es Auseinandersetzungen und auch ein Handgemenge; Fima war alarmiert worden, die Streitenden zu trennen.
Schließlich war eine Liste zustande gekommen. Auch Jitzchak Pessja mit seiner Klarinette stand darauf. Nach seinem Gespräch mit Lili hatte er zwar wieder mit den anderen musiziert, doch seine Depression wich nicht von ihm, sie war sogar schlimmer geworden, und eines Nachts erwischte Fima ihn in der Nähe der Krankenstation mit zwei Tütchen Schlaftabletten, und obwohl er vehement abstritt, sich etwas antun zu wollen, überzeugte Fima die Leute aus seiner Gruppe, kein Risiko einzugehen.
Lili und Fima beobachteten ihn nun, wie er sich ins Boot setzte. Er hielt seine Klarinette fest an sich gedrückt und wiegte sie auf seinem Schoß, wie die jungen Mütter auf dem Schiff ihre Babys wiegten.
Der Fahrer des Bootes zog am Gashebel, und der Motor heulte auf. Das Boot entfernte sich vom Schiff, Lilis Gefühle schäumten auf und wirbelten herum wie das Kielwasser hinter der Schiffsschraube: Natürlich war auch Neid dabei – diese Leute würden noch vor ihr ihren Fuß auf den Boden des ersehnten Landes setzen können –, und auch Scham wegen dieses Neids. Und Sorge um Pessja, er könnte vor der Zeit ins Wasser springen, oder seine Klarinette käme nicht trocken ans Ufer. Und ein Staunen über die Hügel von Eretz Jisruel , die sich am Horizont abzeichneten: Wie konnte es sein, dass sie aussahen wie ganz normale, unheilige Hügel? Siemussten doch etwas Besonderes haben, etwas, was ihren mühsamen Weg rechtfertigte.
Als das Boot außer Sichtweite war, entflammte in ihr endlich auch ein Funken vorsichtiger Freude: Bei einer der nächsten Fahrten
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