Neuland
Straße teilt sich, um den Zug durchzulassen. Der Sarg ist nicht groß. Vielleicht eine Frau? So ist das bei uns, erklärt Alfredo. So sagt man den Toten Adieu, und Dori denkt, dasist schön. Plötzlich muss er an die Beerdigung seiner Mutter denken. Seither ist fast ein Jahr vergangen, und er hat sie kein einziges Mal von den Toten heraufgerufen; er hat sie ganz mit der Asche des Vergessens bedeckt. Jetzt steht ihm die Beerdigung plötzlich so klar vor Augen, dass er sich nicht mehr dagegen wehren kann: wie selbstverständlich Ze’ela neben seinem Vater gestanden hatte, während er nicht wusste, wohin mit sich. Er wusste wohl, dass er bei ihnen stehen musste, aber es fiel ihm schwer, von Roni wegzugehen und in diesem Moment auf ihre Unterstützung zu verzichten, und so blieb er irgendwo mitten unter den Beerdigungsgästen stecken, bis man ihn rief, beim Neigen der Bahre zu helfen, damit die Tote ins Grab hinabglitt. Sein Vater und er hielten je einen Griff und die beiden Totengräber die anderen. Zu diesem Zeitpunkt schien sein Vater noch in Ordnung zu sein, völlig in Ordnung. Sogar als die so kleine Leiche – er hatte seine Mutter nie als kleine Frau empfunden – ins Grab rutschte, sah sein Vater ganz okay aus.
Wer hätte da ahnen können, – noch jetzt erscheint es ihm dermaßen unwirklich, dass ausgerechnet gegen Ende, als Zwi Mandolina zu spielen begann, dass ausgerechnet da sein Vater zusammenbrechen, auf den Boden fallen und eine ganze Reihe von schauerlichen Grabesschreien ausstoßen würde, im befremdlichen Duett mit der Melodie, die Zwi Mandolina zupfte.
Dein Vater ist nicht in der Stadt, sagt Alfredo, nachdem der Letzte des Trauergeleites vorübergezogen und die Straße wieder frei ist. Ich habe in den letzten Tagen einige Recherchen unternommen. Allen Anzeichen nach ist er nach seinem letzten Telefonat mit deiner Schwester zum Markt in Otavalo gefahren. Dann lass uns doch jetzt dorthin, schlägt Dori vor. Die Erinnerung an seinen schluchzenden Vater bedrängt ihn, lässt ihn kaum atmen. Worauf warten wir noch? Tranquilo, Mister Dori, sagt Alfredo, klopft ihm aufs Knie, hier sind wir in Ecuador, an das Warten musst du dich gewöhnen. Aber, ich versteh nicht, sagt Dori ungehalten, der Markt beginnt erst übermorgen, am Samstag, und vor Freitag werden wir dort keinen finden, mit dem wir reden können. Iss erst mal wasRichtiges, schlaf dich aus, in dem Hotel, das ich für dich bestellt habe, nimm eine heiße Dusche, denn die wirst du jetzt nicht mehr überall bekommen, und morgen früh brechen wir auf. Weißt du, was churrasco ist, Mister Dori? Alfredo bringt dich jetzt zur besten churrasquería in Quito.
*
Dori hat keine logische Erklärung für das Gefühl, das ihn überkommt, als Alfredo den Wagen parkt und sie beginnen, durch die schmalen Straßen der Altstadt von Quito zu marschieren. Soviel er weiß, gibt es im Stammbaum seiner Familie keinen verborgenen Zweig in Südamerika. Er hatte sich nie für die Salsa-Gruppen interessiert, die in Jerusalem aus dem Boden schossen, als er studierte, war nie in Verzückung geraten, wenn er die Fotoalben von Freunden anschaute, die von ihrer großen Reise zurückkamen, und hatte auch nie gedacht, dass der Machu Picchu atemberaubend war. Seine Seminararbeiten im Grundstudium hatte er zu den Anfängen des Zionismus geschrieben und nicht über Lateinamerika.
Und dennoch fühlte er sich in Quito gut. Nicht zu Hause, denn nur Jerusalem war zu Hause, aber gut. Sehr gut sogar. War es die Höhenluft, die ihn leicht schwindeln ließ und auf angenehme Art ein bisschen benebelte? Auf dem Flug hatte er in seinem Reiseführer gelesen, Quito liege 2850 Meter hoch, und viele Touristen klagten in ihren ersten Stunden in der Stadt über Sauerstoffmangel. Aber vielleicht ging es hier viel eher um etwas Musikalisches? Jede Stadt hat ihren Rhythmus, und so, wie er etwa in Tel Aviv immer spürte, dass der Rhythmus der Stadt seinem eigenen inneren Rhythmus zuwiderlief, spürte er in Quito ab dem ersten Moment, dass es ihn nicht anstrengte, sich einzufügen. Dass er und die Stadt von Anfang an zusammenpassten.
Auf dem Weg zum Restaurant redet Alfredo nicht viel. Erfahren im Begleiten, lässt er das Bewusstsein derer, die er begleitet, alleine durch die Straßen streifen. Gerüche wecken Doris Geruchssinn, Düfte von gedünstetem Reis, von Huhn, von Weihrauch, von Schuhcreme. Schuhputzer stehen die ganze Straße entlang. Auch Roni putzt manchmal, wenn Kunden aus dem Ausland
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