Neuland
kommen, ihre Schuhe. Die alte Kibbuznikin, die an der Uni mit einfachen Turnschuhen rumgelaufen ist, putzt heute ihre High Heels. Frauen in flachen Schuhen gehen an ihm vorüber, schleppen auf dem Rücken gelb verschnürte rote Säcke, die größer sind als sie selbst. Ein Bus hält an und lässt die Frauen über die Straße gehen. Langsam. Sonderbar, denkt Dori, es ist hier geschäftig – aber langsam. Geschäftig und langsam, wie irgendwann früher. Vielleicht war ich, bevor ich geboren wurde, schon mal hier? Vielleicht ist mein Vater auf ebendieser Straße gegangen, und ich trete mit meinen Füßen in seine Spuren? Wie früher in den großen Ferien am Strand von Michmoret, auf dem Rückweg zum Bungalow? Was macht Neta jetzt? Wie kommt er zurecht? Wer hat ihn heute im Kindergarten gequält? Hat er Mittag gegessen, oder ist er wieder im Hungerstreik? Ich habe Hunger. Wann habe ich das letzte Mal etwas gegessen? Ich habe nicht nur Hunger, ich komme um vor Hunger. Hmmm … excuse me, Alfredo, sagtest du nicht etwas von einem Restaurant?
*
Hier, lies das, bis ich uns das Essen bringe, sagt Alfredo, holt einen dicken Ordner aus der Tasche und legt ihn auf den Tisch, zwischen Messer und Gabel. Damit du nicht glaubst, ich würde nur reden.
Dori setzt sich auf eine Bank mit Blick zur Straße. Er hat sich noch nicht sattgesehen an dieser Stadt. Ab und zu hebt er den Blick, um noch eine vorbeiziehende Farbe zu sehen, und senkt ihn dann wieder auf das Schwarz-Weiß der Unterlagen.
Dankesbriefe sind dort abgeheftet. Zahllose Dankesbriefe. Jeder in einer eigenen Plastikhülle. Auf Englisch, Hebräisch, Chinesisch. Oder ist das Japanisch? Er ist sich nie sicher, welche der beiden Sprachen man von oben nach unten schreibt.
Aus einer Plastikhülle zieht Dori einen der Briefe, die von rechts nach links geschrieben sind, und liest:
Wir hatten bereits drei Monate nichts von unsrem Schlomi gehört und waren schon jenseits von aller Verzweiflung. Wir haben ihn über die offiziellen Stellen gesucht, doch umsonst. Bis uns jemand an Alfredo verwies. Ab dem Moment, wo wir Alfredo trafen, wussten wir, es gibt eine Chance. Alfredo ist nicht der Typ, der aufgibt. Er hat uns zwei Wochen lang an Orte gebracht, die in keinem Reiseführer und auch auf keiner Landkarte stehen. An einem dieser Orte haben wir zum Schluss unsern Schlomi gefunden. Völlig unterernährt. Die Ärzte sagten, wenn wir ihn, Gott behüte, eine Woche später gefunden hätten, hätte er nicht mehr gelebt.
Allen, für die Nichtfinden nicht infrage kommt, empfehlen wir Alfredo aufs Wärmste. Er sieht vielleicht ein bisschen ruppig aus, aber er hat ein Riesenherz. Und das Wichtigste: Er ist professionell, absolut professionell.
Unterzeichnet von:
Familie Aviv, endlich wiedervereint.
Und noch einer, direkt dahinter, in ganz ähnlicher Schrift (vielleicht hat jemand diese beiden Briefe für ihn gefälscht, denkt Dori und schämt sich für sein Misstrauen).
An diejenigen, die sich nicht sicher sind, ob sie Alfredo beauftragen sollen!
Mein gestörter Bruder hat sich mit allen möglichen kriminellen Elementen in Kolumbien eingelassen, an die sich die Polizei dort gar nicht rantraut. Nur über Alfredos Kontakte sind wir in deren Lager im Dschungel gelangt und haben angefangen, mit ihnen zu verhandeln. Wir mussten unser halbes Haus in Israel verkaufen, um meinen Bruder aus der Hand dieser Scheißer zu befreien. Aber wir haben keinen Moment gezögert. In dem ganzen Prozess stand uns Alfredo bei; er hat uns erklärt, was passiert, hat uns immer wieder selber entscheiden lassen. Er ist teuer, dieser …sohn (und er versteht auch Ivrith, also passt auf, was ihr sagt, wenn er dabei ist), aber er ist jeden Dollar wert.
Unterzeichnet von:
Omer Barsilai, der Bruder.
In dieser Plastikhülle liegt auch ein Foto: zwei junge Männer, die sich umarmen. Sie lächeln. Beide haben langes Haar, wie Gitarristen einer Rockband. Der Rechte ist wohl der Ältere, aber er hat einen trüben Blick, der Linke ist körperlich etwas schlaffer, sein Blick ist aber viel nüchterner. Schwer zu sagen, wer hier wen gerettet hat.
Ein schwerer Körper sinkt neben ihm nieder, so dass er den Blick von den Dokumenten hebt. Eine indianische Frau mit breitem Gesicht, breiten Schultern und einem weiten Rock setzt sich breitbeinig wie ein Mann neben Dori und schiebt ihn, ohne dass er sich wehren kann, an die Wand. Immer mehr Menschen strömen in das Restaurant, einige in Geschäftsanzügen, andere in
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