Neuland
ich auch nicht die ganze Zeit, und du kannst die Stadt ein bisschen auf dich wirken lassen, eh , Mister Dori? Und mach dir keine Sorgen wegen den Bildern, wir kommen auch mit dem zurecht, was wir haben. Hier halten wir mal. Von diesem Punkt hat man einen besonderen Ausblick, Amigo. Ups, lebst du noch? Schön. Ich habe nicht bedacht, dass du meine Art zu bremsen noch nicht kennst. Jetzt steig auf deiner Seite aus.Ja, so, und jetzt hol mal tief Luft, denn jetzt wirst du ein panorama fantástico sehen.
In den ersten Sekunden an einem neuen Ort suchen Doris Augen, die Augen des Vorgeschobenen Beobachters in Reserve, immer nach potenziellen Gefahren: Scharfschützen auf Dächern, verdächtige Bewegungen in den Gassen, ein zurückgezogener Vorhang, nach einem Aufblitzen, das verrät, dass jemand dich durch sein Fernrohr beobachtet. Während er das tut, weiß er schon, es ist absolut überflüssig, aber er kann nicht anders. So ist das, seit dem Beobachter-Kurs: Sein erster Blick dient dazu, Verderben abzuwenden … Erst nach ein paar Sekunden lässt der Impuls nach, und er kann sich dem faszinierenden Anblick hingeben: In einem ausgedehnten Tal wiegt sich eine riesige Stadt mit der Gelassenheit eines kleinen Dorfes zwischen hohen, rotgesichtigen Bergen … Und über diesen menschlichen Teppich blickt vom höchsten Gipfel eine vergoldete barmherzige Madonna herunter. Quito besitzt eine Würde, die schwer in Worte zu fassen ist , plötzlich erinnert er sich an diesen Satz aus der letzten E-Mail, die sein Vater von hier aus gesendet hat.
Das ist unsere Jungfrau, und die Berge rundherum, das sind die ewigen Anden, sagt Alfredo mit einer anderen, respektvollen Stimme. Er lässt das Bild noch ein paar Sekunden auf Dori wirken und führt ihn dann zurück zum Auto. Auf der Fahrt stadtauswärts kommen ihnen Autobusse entgegen, die von der israelischen Buskooperative schon in den siebziger Jahren ausrangiert worden wären. Auf ihren Dächern viel Gepäck und manchmal auch Passagiere. Auf den schmalen Gehwegen fliegende Händler, die Ware vor sich auf bunten Matten von der Art ausgebreitet, wie sie früher in den Wohnungen seiner Freunde hingen. Die Gesichter der Händler sind anders geschnitten. Nicht auf israelische und auch nicht auf amerikanische Art. Sie ähneln ein bisschen denen der Japaner, aber nur entfernt … Die Männer sind eher klein, außer einem Riesen, der vor einer Reifenflickerei steht. Die Frauen haben sehr breite Hüften und ganz schwarzes Haar, auch die alten. Zwei helle Touristinnen fallen auf, ziehen die Blicke auf sich; sie gehen in einen Laden, über dessen Eingang »Fotocopia« steht. Daneben ist eine Apotheke mit dem Schild »Farmacia«. Vielleicht ist es wirklich leicht, Spanisch zu lernen, wie sein Vater in einer seiner früheren E-Mails behauptet hat, als man noch verstehen konnte, was er schrieb. Ein großer Baum mit gezackten Blättern, den Dori nicht kennt, ragt am Straßenrand auf. Wie sagt man Baum auf Spanisch? Er will Alfredo fragen, aber wenn er anfangen würde, bei allem zu fragen, wie man es nennt – es nähme kein Ende. Und hier ist eine Schule. Schüler in Schuluniform quellen aus dem Tor. Eine prima Idee, diese Einheitskleidung. Gleiche Chancen für alle. Schade, dass sie in seiner Schule damit aufgehört haben. Jetzt, im Sommer, kommen die Mädchen mit Hemdchen bis zum Nabel, und am liebsten würde er ihnen eine Jacke überwerfen, aber manchmal, wenn Neta ihn nachts mehrmals aufgeweckt hat, kommt er müde und ungeschützt in die Klasse, als könnte jeden Moment eine innere Saite in ihm reißen, und wenn dann eins von diesen Mädchen mit den Hemdchen nach der Stunde zu ihm kommt, um ihn etwas zu fragen …
Immer mehr Kinder in Einheitskleidung strömen auf die Straße, wie Ameisen auf der Flucht aus einem angegriffenen Nest. Noch und noch Schultaschen. Die Art, wie der Ranzen auf dem Rücken der Kinder tanzt, bemerkt er, ist auf dieser Seite der Erdkugel nicht anders.
Und plötzlich eine Vollbremsung.
Ein Mann im Anzug zeigt mit der Hand »Stop«, und Alfredo bremst mit quietschenden Reifen.
Eine ganze Truppe von Männern in Anzügen umringt einen Sarg. An ihrer Spitze trägt jemand eine rot-gelbe Fahne, dahinter zieht eine Gruppe von Musikanten. Nach den dicht gedrängten Männern kommen die Frauen. Trommler schlagen, Trompetenspieler blasen, Gesang aus den Kehlen der Trauernden. Es klingt nicht wie ein Gebet, sondern wie ein richtiges Lied, freudig, rhythmisch. Die Menge auf der
Weitere Kostenlose Bücher