Neuland
Doch die Wahrheit war viel bitterer. Dieser Kibbuz, der während der zwei Jahre Hachschara das war, wonach ihr Herz begehrte, deprimierte sie. Bei allen Arbeiten, die man von ihr erwartete, scheiterte sie. Im Kuhstall brachte sie als Melkerin so wenig Ertrag, dass der Verantwortliche sie im Verdacht hatte, heimlich Milch beiseitezuschaffen. Im Hühnerstall bewirkte ihre pure Anwesenheit, dass die Hühner ins Freie flohen. In der Küche glitten ihr Gläser und Teller aus den Händen und zerbrachen. Und auf dem Wachturm war sie, als eine Kontrolle der Hagana vorbeikam, mit dem Telefon schlafend angetroffen worden.
Sie kam sich vor wie Simson, nachdem man ihm die Locken abgeschnitten hatte: Keine der Eigenschaften, die sie früher zu »Lili Freud«, zur Vorsitzenden von Ausschüssen und Sprecherin der Komitees gemacht hatten, war im Kibbuz gefragt. Hier interessierte sich niemand dafür, dass sie gerne las oder dass sie gut schreiben konnte. Im Gegenteil, ihre Versuche, mit den Gefährtinnen über Bücher zu reden, brachten ihr den Ruf ein, sie sei hochnäsig.
Sie tratschen, hatte Natan ihr gesagt. Und ab dem Moment, da er ihr erzählt hatte, was sie sagten, nahm sie das Gerede um sich herum wahr, wann immer sie durch den Kibbuz ging – im Speisesaal, in der Wäscherei oder im Kinderhaus –, überall Gerede, Satzfetzen, Blicke. An einem Freitagmorgen bekam sie, wie durch ein Wunder, eine Bluse zugeteilt, die sie selbst in ihrem Gepäck hierher gebracht hatte; die hatte inzwischen unter allen jungen Frauen die Runde gemacht und war zu ihr zurückgekommen. Etwas ausgeblichen, aber dennoch ihre Bluse. Sie zog sie an, hakte sich bei Natan unter, streckte sich und hob den Kopf. Melken kann ich zwar nicht, aber wenigstens seh ich gut aus, dachte sie, und dann hörte sie oder meinte sie zu hören, wie eine Gefährtin, die ihnen entgegenkam, sagte, wie die sich rausputzt, diese Freundin von Natan, und eine andere flüsterte, wie bürgerlich, und Lili rief ihr zu, sag es doch laut, sag laut, was du da flüsterst, und die andere meinte verlegen, ich habe nur gesagt, es wird regnerisch, es gibt Wolken, bestimmt wird es heute Nacht endlich regnen, und Lili rief, Lügnerin, eine Lügnerin bist du, und Natan meinte, Lili, bleib ruhig, sie kann nichts dafür. Er hatte sie am Arm genommen und sie in ihr Zimmer gebracht – dort flohen die Eidechsen aus den Ritzen, und Gordonia schrie Dios! Dios! Dios! , und kurz danach trat sie, kaum zu glauben!, mit einer jungen Frau aus dem Zimmer, und Lili sehnte sich nach Hause, aber dort war Krieg, und sie hatte keine Ahnung, wie es ihrem Vater und ihren Schwestern ging, warum waren nach dem Brief, in dem ihr Vater schrieb, wie man ihm seine Karakulmütze vom Kopf gerissen hatte, keine Briefe mehr gekommen? Aber auch darüber pflegte man hier nicht zu sprechen.
Wo bist du denn mit deinem Kopf?, hatte Rama, die Verantwortliche in der Küche, sie eines Tages gemahnt, nachdem ihr wieder ein Glas entglitten und auf dem Boden zersprungen war.
Dort, hatte Lili gesagt. Ihr war die Wahrheit herausgerutscht. Mein Vater und meine Schwestern – ich habe schon Monate nichts mehr von ihnen gehört.
Glaubst du, da bist du die Einzige, Kameradin Lili?
Nein, aber –
Esther war es gewesen, die ihr geholfen hatte, eine Entscheidung zu treffen. Sobald sie Lilis ersten Brief erhalten hatte, war sie mit dem nächsten Bus aus Haifa gekommen.
Ich mache mir Sorgen, hatte sie gesagt, und wie ich sehe, völlig zu Recht. Schau doch, wie du aussiehst. Bleich, hager, sogar dein Busen hängt!
Wirklich?
Das nicht, aber du siehst aus wie eine saftloseTomate. Was haben sie hier mit dir gemacht? Komm nach Haifa, sagte sie, nachdem sie Lilis Ausführungen gehört hatte. Im Stockwerk unter mir ist gerade ein Zimmer frei geworden, winzig klein, aber es wäre euer eigenes Zimmer, ohne Primus .
Da stürmte, wie um ihren Worten Nachdruck zu verleihen, Gordonia ins Zimmer. Hola Lili, rief sie, indem sie ihre Stiefel in die Ecke schleuderte, erst dann bemerkte sie den Besuch und fragte: Wer bist du?
Esther.
Esther?! Wir haben mucho von dir gehört. (Lili war sich sicher, niemandem außer Natan von Esther erzählt zu haben). Angenehm, ich bin Gordonia Stirin, der Primus, der Stachel im Arsch, die Fliege in der Liebessuppe von Lili und Natan. Sie kam mit einem breiten Lächeln auf Esther zu, erdrückte sie mit ihrer Umarmung und fuhr dann mit der Hand über ihr Bein, bis zum Rand ihrer kurzen Hosen: Psch … was für Beine,
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