Neuland
breitgemacht. Erst hier, in Neuland, hat sich etwas geöffnet, ein bisschen wenigstens. Deshalb weiß ich nicht, wann ich zurückkomme. Vermutlich, wenn ich das Gefühl habe, dass es nicht mehr so gefährlich für mich ist.
Meni und Dori
Eine ganze Weile saßen sie nebeneinander und schwiegen die Erinnerungen an die Frau, die sie beide geliebt hatten. Plötzlich erinnerte Dori sich an eine Nacht im Krankenhaus; er musste schlucken. Alle waren schon gegangen, nur sie beide saßen noch auf den Plastikstühlen nahe an ihrem Bett. Mutters Augen waren geschlossen, doch plötzlich schlug sie sie auf, und ihr Blick wanderte von ihm zu seinem Vater. Mit ihrem schönen Lächeln sagte sie: Wie ähnlich seid ihr euch geworden, ihr beide, für einen Moment hab ich gedacht, ich sähe doppelt.
Komm, sagte sein Vater jetzt, ich möchte dir etwas zeigen.
Mit einer energischen Bewegung stand er auf und führte ihn in einen anderen Flügel des Farmhauses. Er ging aufrecht und viel schneller als zu Hause, und Dori, dessen Rücken noch immer schmerzte, kam sich vor wie ein kleines Kind, das versucht, mit den Erwachsenen Schritt zu halten. Die Geschichte dieser Farm ist eine besondere Geschichte, begann sein Vater auf dem Flur, und ohne zu prüfen, ob Dori diese besondere Geschichte auch hören wollte, fuhr er fort: Familie Jacobi ist neunzehnhundertzweiunddreißig hierhergekommen, als man aus Deutschland noch rauskonnte. Verstehst du, das Siedlungsprojekt des Barons Hirsch in Argentinien, das zunächst gescheitert war, wurde in den dreißiger Jahren als Brückenkopf genutzt, der alle Juden aus Europa aufnahm, die klug genug waren, rechtzeitig zu fliehen. Und genau das hatte Baron Hirsch geplant. Das Schöne ist, dass die Jacobis in kürzester Zeit selbst zum Brückenkopf des Brückenkopfes wurden. Ab neunzehnhundertachtunddreißig hat diese Farm die Juden aufgenommen, die nach der Kristallnacht aus Deutschland flohen. Hier haben sie ihre erste Nacht verbracht, haben von Frau Jacobi ein warmes Essen und Cowboystiefel bekommen, und dann haben sie sich in einer der jüdischen Moschavot in der Gegend angesiedelt. Wir sind da.
Er öffnete eine Tür und gab den Blick frei in einen kleinen Saal, eine richtige Bibliothek, lauter Regalbretter und Bücher.
Er schwieg einen Moment, um den Anblick wirken zu lassen, und sagte dann: Wenn die Juden die »Auffangstelle« wieder verließen, haben sie Vater Jacobi als Geschenk ein Buch dagelassen. So wuchs die Bibliothek mit jedem Flüchtling und wurde zur größten in dieser Gegend. Hier liegt ein großer Schatz wertvoller jüdischer Literatur. Vor allem auf Deutsch, aber auch auf Jiddisch, Russisch, Ivrith und Spanisch. Er zog ein Buch aus einem Regal. Kennst du das? Auf dem Umschlag stand Los gauchos judíos .
Alberto Gerchunoff, nicht wahr?
Ja, er hat die Geschichte dieses Siedlungsversuches in kleinen Erzählungen aus dem Alltagsleben der Siedler literarisch verarbeitet. Sein Vater blätterte in dem Buch, bis er die richtige Seite fand. Das ist auf Spanisch, sagte er, ich übersetze es für dich in groben Zügen –
»Und deshalb vergaß ich, als Rabbi Zadok Kahn die Auswanderung verkündete, in meiner Freude Jerusalem und erinnerte mich an die Worte von Jehuda Halevi: ›Zion liegt dort, wo Frieden und Eintracht herrschen‹.«
Sein Vater hielt ihm das Buch hin, doch Dori nahm es nicht. Soviel ich weiß, erwiderte er, liegt Zion an einem sehr präzise definierten Ort.
Oj, Dorinju, du hast die Pointe verpasst.
Dann erklär sie mir! Ich bin selbst schon Vater, dachte Dori, er soll mich nicht dauernd Dorinju nennen.
Ein Staat, der nur existiert, um das Überleben zu sichern, funktioniert nicht, Dorinju. Die Idee zur Errichtung des Staates Israel war, die Juden aus dem Exil an einem Ort zu versammeln, von dem man sie nicht vertreiben würde. Aber das war, ich betone, in der Vergangenheit. Ein Staat braucht eine Vision. Ein Staat ohne Vision ist wie eine Familie, in der es keine Liebe gibt. Und wenn es keine Liebe gibt, warum dann die Familie zusammenhalten?
Was hat das alles mit Neuland zu tun? Dori wurde ungeduldig. Er ärgerte sich, dass sein Vater zu ihm sprach wie ein Guru zu seinen Jüngern, und noch mehr brachte es ihn auf, dass einer, derkeinerlei Interesse für seine Familie zeigte, sie jetzt als Metapher benutzte.
Neuland wird die Mahnung sein. Neuland wird daran erinnern, dass der Staat der Juden ein Athen werden sollte, bevor er ein Sparta wurde.
Aber warum in Argentinien?
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