Neuland
sie hinter eine der Windturbinen.
Normalerweise red ich nicht gern darüber, sagte er und spielte mit seinem Brusthaar, die Leute verstehen das immer falsch.
Inbar bewegte sich souverän auf einem ihr vertrauten Pfad. Typen wie er waren bei der Radiosendung, für die sie gearbeitet hatte, ihr täglich Brot gewesen. Es war ganz natürlich, dass diese Leute zuerst etwas zögerten. Sie hatten ihre innere Welt so langeversteckt, dass sie sich schon an diese Verschlossenheit gewöhnt hatten. Doch aus Erfahrung wusste sie, dass es nur eine richtige Frage brauchte, die ihnen zeigte, dass ihr Gegenüber bereit war, für die Dauer des Gespräches die Gesetze ihrer inneren Welt zu befolgen, und sie fingen an zu reden.
Es war wirklich nicht nett von dir, dass du Jesus nichts zu trinken gegeben hast, sagte sie, sich dieser Provokation wohl bewusst. Gib’s zu, du hast es verdient, dass er dich so verflucht hat.
Wieso denn Jesus? Jetzt explodierte er. Wann hätte Jesus je jemanden verflucht? Hör mir mal gut zu: Mit grundloser Gewalt hat alles angefangen! Mit der Zerstörung des zweiten Tempels. Uns blieb nur noch die Westmauer des Tempels. Versuch mal, in einem Haus zu wohnen, das nur eine Wand hat. Sogar die Gästehütten in Neuland haben drei Wände. Also fing ich an rumzuziehen, unterzutauchen und wieder aufzutauchen. Immer unter neuen Decknamen. Was heißt wie? Wie ein Zeittunnel, nur eben ohne Tunnel. Ich werde in eine Epoche geschmissen. Manchmal ist es eine gute, manchmal eine beschissene. Es ist viel leichter, wenn es dich nach Woodstock verschlägt, als nach Treblinka. Aber du musst wissen, auch in Woodstock gab es ein paar sehr böse Sachen. Weißt du, dass sich dort zwei Leute mit Gabeln erstochen haben? Du musst die Platte nur rückwärts abspielen, dann hörst du ihre Schreie. Das wird allgemein verschwiegen, um dem Image nicht zu schaden. Image ist eine wichtige Sache. Ich zum Beispiel habe ein ziemlich problematisches Image. Hast du mal gesehn, wie ich in den skandinavischen Hetzschriften aussehe? Abschreckend hässlich. Ein Marlon Brando bin ich nicht, aber auch nicht so, wie diese Antisemiten mich zeichnen, das musst du zugeben. Nur einmal, im vierzehnten Jahrhundert in Toledo, ist es mir gelungen, die Frau, die mich malen sollte, flachzulegen. Eine Künstlerin, du weißt schon. Die ganze Sache mit dem Umherziehen hat ihr gefallen. Ohne Verpflichtungen, ohne »ich liebe dich« und ohne Kräutertee. Der pure Trieb. Auf dem Küchentisch, während ihr Mann schlief, und danach hat sie mich so schön gemalt, dass man sie ein paar Monate später wegen Ehebruch, oder vielleicht auch wegen Hexerei auf dem Scheiterhaufen verbrannt hat. Wenn eine Frau sie nicht will, wissen die Männer schon, wie sich an ihr rächen, obwohl es auch auf diesem Gebiet gewisse Fortschritte gibt. Aus der Perspektive von zweitausend Jahren kann ich dir sagen, dass es bei der Gleichberechtigung einen Fortschritt gibt, aber der Weg ist noch lang. Als ich von ihrem Tod erfuhr, war ich bereits in Paris. Ich habe Ströme von Tränen vergossen. Warum überrascht dich das? Dass ich umherziehe, heißt nicht, dass ich mich nicht binde. So bin ich, ich ziehe umher und binde mich. Binde mich und ziehe weiter. Wer meinst du, ist mit Herzl durch den Jardin du Luxembourg gegangen, als er den Judenstaat visionierte? Ja, wirklich. Denkst du, einer allein kann sich das alles in zwei Wochen ausdenken? Und dazu noch Herzl, der keine Ahnung vom Judentum und vom Umherziehen hatte, bis er mich traf. Und von wem, meinst du, stammt die Zeile First we take Manhattan, then we take Berlin ? Von Leonard Cohen? Das glauben alle. Aber frag sie mal, was diese Zeile bedeutet, dann sind sie plötzlich ganz still. Ich hab sie ihm nämlich eingeflüstert, in den Siebzigern, in einer Bar in Manhattan. Um zwei Uhr nachts. Schau dich um, my friend , hat er gesagt, meinst du nicht auch, dass alle hier Juden sind? First we take Manhattan , hab ich ihm geantwortet , then we take Berlin . Man kann einem wandernden Volk zwar ein Land geben, aber seinen Drang umherzuziehen, kann man ihm nicht nehmen. Jetzt gib mir doch nicht diesen Blick!, oy, sorry , manchmal klingt mein Ivrith wie übersetzt. So ist das, wenn man tausend Jahre auf Achse ist. Was schaust du mich so an? Wenn du mir nicht glaubst, geh in diese Bar in Manhattan, ich weiß den Namen nicht mehr, Seventh Avenue / Ecke Broadway, auf der Männertoilette findest du ein Graffito von mir, mit der Geige. Übrigens auch in
Weitere Kostenlose Bücher