Neuland
ist.
Lili schwieg. Tief innen, unter der Schicht ihres Selbstbetrugs wusste sie, dass alles, was er sagte, stimmte.
Als der Engel aus dem Himmel kam und verkündete, wer dereinst zusammengehören würde, sagte er, von ihrem Schweigen ermutigt, da hat er unsere Namen zusammen genannt, Lili. Und statt auf ihn zu hören, quälen wir uns jetzt schon sechs Jahre.
Wo bist du denn gewesen, vor sechs Jahren, Fima?, fragte sie mit brüchiger Stimme. Warum kommst du erst jetzt?
Weil ich damals jung und dumm war. Ich dachte, solche Begegnungen wie unsere passierten jeden Tag.
*
Und dies war der absolut letzte Moment gewesen, in dem sie noch hatte wählen können.
Fima hatte sich in seinem Stuhl zurückgelehnt, als wolle er sagen: Lili, mein Vorschlag ist auf dem Tisch. Jetzt musst du entscheiden, was du damit machst.
Sie wusste, er würde diesen Vorschlag nicht wiederholen. Und sie wusste auch, wie viel Mut er aufbringen musste, um sein Leben noch einmal neu zu beginnen. So viele wollten gehen, fliehen, sich retten, die Illusion zerschlagen, die Fragen stellen, die man nicht stellen darf, auseinanderbrechen und sich noch einmal neu zusammensetzen, noch einmal neu anfangen.
Nur wenige taten es wirklich.
Etwas in ihr wollte auf seinen Vorschlag eingehen, wollte zu den wenigen gehören, die diesen Mut aufbrachten, gewiss. Doch da kam der Kuckuck aus der Uhr und verkündete: Zwölf Uhr. In einer halben Stunde musste sie los, um Hanna aus dem Kindergartenabzuholen. Natan war am Toten Meer; wenn sie sie nicht abholte oder sich verspätete, würde das Mädchen alleine am Tor warten.
Ich kann nicht, hatte sie Fima schließlich gesagt. Sie hätte sagen können »ich will nicht«, aber sie hatte »ich kann nicht« gewählt. Vielleicht neigt man dazu, dem Unterschied zwischen diesen beiden Formulierungen zu viel Bedeutung beizumessen.
Das Mädchen, hatte sie zu Fima gesagt, ist meine Heimat. Sie macht mir das Leben zur Hölle, das stimmt. Aber das ändert nichts daran, dass sie meine Heimat ist. Sie war bei mir im Bauch. Ihr Männer könnt das nicht verstehen. Wie soll ich dir das erklären? Zu viel Zeit ist vergangen, Fima. Zu viele Dinge binden mich hier. Den Punkt, an dem ich mich lösen konnte, habe ich schon überschritten.
Fimas Schultern hingen noch trauriger. In seinen Augen zerbröselten Paläste und fielen in sich zusammen. Sein Kinn hatte sich plötzlich verdoppelt, sein Adamsapfel war verschwunden, als hätte es ihn nie gegeben.
Sie erinnerte sich, wie er einmal so an Deck gestanden hatte, völlig erschöpft nach einem Sturm, und dem Meer seinen Antisemitismus vorgehalten hatte.
Und genau wie damals öffnete sich ihr Herz zu ihm, Millimeter um Millimeter.
Sie blickte wieder auf die Uhr. Noch fünfundzwanzig Minuten.
Aber trotzdem, sagte sie und streckte ihre Hand aus, um seine Wange zu streicheln, wenn du dir schon die Mühe gemacht hast, hierherzukommen –
Sie stand auf, knöpfte ihre Bluse auf, bis zum letzten Knopf, und sagte sich, auch Träume muss man manchmal mit etwas Material aus der Wirklichkeit nähren, sonst verkümmern sie, und sie trat dicht an ihn heran, auf Atementfernung, und sagte:
Wir haben fünfundzwanzig Minuten, Musikant. Bist du noch immer so schnell wie früher?
Inbar
Als alle anderen vor dem Fernseher saßen, um sich eine weitere Rede von Nasrallah anzusehen, nutzte ihre Großmutter die Gelegenheit, öffnete leise, damit keiner es merkte, die Tür und ging hinaus auf die Straße. Erst nach einer halben Stunde, vielleicht noch später, bemerkten sie, dass ihr Zimmer leer war. Nachdem sie entsetzt festgestellt hatten, dass sie nicht vor dem Haus und auch nicht in der unmittelbaren Umgebung war, teilten sie sich kopf- und planlos auf, um sie zu suchen (wo war Alfredo, wenn man ihn brauchte, ging es Inbar durch den Kopf).
Ejtans Brüder gingen nach Süden, Ejtan fuhr mit dem Fahrrad nach Osten, Richtung HaTikwa-Viertel. Ihre Mutter stürmte los in Richtung Meer, und Inbar suchte noch einmal das nähere Umfeld ab. Schockenstraße, Herzlstraße, Salamestraße und weiter nördlich.
Nur die hier lebenden ausländischen Arbeiter kamen ihr entgegen. Ein Nepalese, dann ein Senegalese. Alle waren sie sehr jung, zu jung. Haben Sie vielleicht eine alte Frau gesehen?, fragte sie erst auf Hebräisch, dann auf Englisch und dann auf Spanisch, una abuela vieja , sagte sie, ließ sich noch einmal ihre Reisesprache auf der Zunge zergehen.
Si , antworteten sie. Sie ist in diese Richtung gegangen.
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