Neuland
feilte wieder an den letzten Zeilen, die sie im Café geschrieben hatte:
Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass die Legende vom Wandernden Juden, die über viele Jahrhunderte hinweg bestand, weiterbesteht und weiterbestehen wird, und das nicht nur aufgrund der historischen Beziehungen zwischen Judentum und Christentum oder des in den europäischen Gesellschaften tief verankerten Antisemitismus, sondern auch aufgrund der zutiefst menschlichen, jedoch verständlicherweise angstbesetzten Sehnsucht, eine feste Bleibe aufzugeben und zu einem anderen, besseren Ort zu ziehen. Zu glauben, dass es eine Alternative zu der sich täglich wiederholenden Routine gibt. Ist der Trieb weiterzuziehen um Nahrung zu kaufen, beim jüdischen Volk tatsächlich ausgeprägter als bei anderen Völkern? Oder wurden Juden nur immer wieder gezwungen, einer angeborenen Neigung nachzugehen, die sie längst satthatten, und sich auf eine Reise zu begeben, der sie längst überdrüssig waren? Diese Arbeit möchte –
Esther!, rief ihre Mutter. Hanna hatte schon begriffen, wenn Lili »Esther« rief, war sie gemeint, doch noch immer kränkte es sie ein bisschen.
Was ist, Mama? Verärgert über die Störung ging sie in ihr Zimmer.
Kannst du mir ein Glas Tee bringen?
Aber Mama, es ist zwei Uhr nachts, und jetzt willst du einen Tee?
Na gut, dann mach ich mir selber einen.
Nein, nein, Mama, flehte sie. Beim letzten Mal, als Lili sich etwas »selber gemacht« hatte, war sie aus dem Haus gelaufen und hatte sich in den Straßen der Stadt verlaufen. Zwei hilfsbereite Jugendliche, von denen einer Joavi schmerzhaft ähnelte, hatten in ihrer Jacke ein Büchlein mit Telefonnummern gefunden und angerufen.
Hanna ging Tee machen. Mit ihrer Konzentration fürs Schreiben war es sowieso schon vorbei. Die Wohnung atmete lautlos. Sogar Inbar hatte inzwischen den Computer zugeklappt und war schlafen gegangen. Nur die Flugzeuge der Luftwaffe dröhnten auf ihrem Weg nach Norden, und sie und ihre alte Mutter waren wach.
Sie brachte ihr den Tee ans Bett, mit fester Hand, damit nichts verschüttet wurde und den Keks benetzte.
Weißt du eigentlich, Esther, sagte Lili zu ihr, dass er mich zum Schluss besucht hat?
Hanna musste nicht fragen, wer.
Er hat an die Tür unserer Wohnung in Neve Schaanan geklopft, du weißt schon, die mit dem verdorrten Hinterhof, und mich gebeten, mit ihm nach Amerika zu kommen. Ja, wirklich. Ohne die Kinder, hat er gesagt. Nur du und ich. Ich hab ihm gesagt, alles, was recht ist, ich lasse meine Hanna nicht allein. Wärst du vor Hanna gekommen, wäre ich vielleicht bereit gewesen, dich anzuhören. Aber das Mädchen ist meine Heimat. Das hab ich ihm gesagt, Esther.
Ich bin nicht Esther, Mama, und es ist schon spät, sagte Hanna mit einem Kloß im Hals und legte ihre Hand auf die zitternde Hand ihrer Mutter. Morgen früh erzählen wir uns Träume, in Ordnung?
Aber das ist kein Traum, Esther, protestierte ihre Mutter kraftlos, doch ihre Augen fielen schon zu.
Lili
Sie hatte gelacht: Wie Sarah, als die Engel sie besuchten, und ihr verkündeten, sie würde einen Sohn bekommen.
Gestern war es ihr nicht gelungen, sich zu erinnern, wie sie reagiert hatte, als Fima ihr vorschlug, mit ihm nach Amerika zu fahren. Plötzlich hatte sie einen Stromausfall im Gehirn, alle Einzelheiten waren aus ihr weggeflossen wie Wasser durch die Zinken einer Gabel. Am Morgen hatte sie Inbar gebeten, den Ventilator auf Stufe vier zu stellen. Es war ja immerhin Tel Aviv und Juli, und nach und nach kehrten die Einzelheiten zurück, und auch ihr Lachen von damals.
Warum lachst du?, hatte Fima sie gefragt, mit einem Anflug von Enttäuschung in der Stimme.
Weil … wie soll ich es sagen … weil du damit ein bisschen spät dran bist, Fima. Selbst wenn ich mit dir nach Amerika kommen wollte, und ich sage damit nicht, dass ich das will, habe ich eine Tochter. Die kann ich nicht hierlassen.
Sie ist doch sowieso ein Vatertöchterchen.
Was heißt das? Woher hast du das?
Ich beobachte euch. Ich bin vor einer Woche von zu Hause weg. Immer wenn ich mich mit meiner Frau gestritten habe, sagte sie mir, geh doch, geh zu deiner Lili. Und so bin ich gegangen. Habenur eine kleine Tasche mitgenommen. Und meine Mundharmonika. In Hadar hab ich eine Wohnung gemietet und komme jeden Morgen zu Fuß den Berg hinauf und schaue mir euch an. Das Mädchen spielt ihr Duett mit dem Vater. Und zwischen euch beiden schwingt ein Misston. In euerm Trio bist du die, die alleine
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