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Neuland

Neuland

Titel: Neuland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eskhol Nevo
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fragt ihn seine Schwester, noch bevor er etwas sagen kann.
    Was?
    Die Mail. Ich war mir sicher, dass du deshalb anrufst.
    Nein, hier gibt es kein Internet. Ich bin mitten in einer Gegend –
    Papa hat mir eine Mail geschrieben.
    Wie bitte?
    Es tue ihm leid, dass er mir nicht mehr geschrieben habe. Aber es habe da Dinge gegeben, die er mit sich selbst habe klären müssen.
    So, mit diesen Worten?
    Warte, es kommt noch ärger. Danach schrieb er, er sei am Titicacasee gewesen und habe dort alle Antworten bekommen, und jetzt habe er etwas vor, wofür wir alle sehr stolz auf ihn sein würden, aber er könne nicht darüber reden.
    Was?
    Das hat er geschrieben.
    Und was noch?
    Das ist alles.
    Was heißt alles?
    Zum Schluss schrieb er noch, er wisse nicht, wann er sich wieder melden könne, und wir sollten uns keine Sorgen machen.
    Das klingt besorgniserregend.
    Ja. Hättest du dir gedacht, dass …? Es passt so gar nicht zu Papa, finde ich.
    Er schweigt und stellt sich für einen Moment seine Schwester am anderen Ende der Leitung vor. Sie trägt bestimmt ihren neuen, violetten Trainingsanzug, den sie sich nach der Scheidung gekauft hat, mit dem festen Entschluss, jetzt regelmäßig laufen zu gehen, und der sehr schnell zu einem Hausanzug geworden ist. Bestimmt hält sie das kabellose Telefon in einer Hand und eine Zigarette in der anderen und eines der Kinder in der dritten, in der dritten, die nur Eltern haben.
    Er überlegt, ob er sie in das einweihen soll, was er in den letzten Tagen erfahren hat, denn auch ohne das ist im letzten Jahr ihr ganzes Lebensgebäude eingestürzt, und ihr Vater war der einzige Mann in ihrem Leben, auf den sie sich hat verlassen können. Andererseits hatte genau das ihn an der Art, wie sein Vater sich ihr gegenüber verhielt, immer verrückt gemacht: Er hatte sie geschützt, geschützt, geschützt und sie kleingehalten.
    Bist du noch da?, fragt sie. Ich habe gesagt, das passt nicht zu dem Vater, den wir kennen, diese E-Mail.
    Ja, sagt er, aber wie gut kennen Leute ihre Eltern überhaupt, Ze’ela?
    *
    Zu der Schischa seiner Mutter waren alle möglichen Leute gekommen, die er nicht kannte; sie hatten Dori flüchtig auf die Bartstoppeln geküsst, ihm »möge dich kein Leid mehr treffen« oder »möge der Himmel dich trösten« gewünscht und dann Geschichten erzählt. Einige davon hatte er schon gehört. Zum Beispiel, wie Mutter während der Belagerung Jerusalems im Unabhängigkeitskrieg vor lauter Hunger Orangenschalen gegessen hat. Oder wie sie bei einem Ausflug der Jugendbewegung zum Nachal Kasiv gestürzt ist und sich eine Rippe gebrochen hat.
    Aber einige der Geschichten haben ihn auch überrascht, nicht umgehauen, aber doch überrascht. Wie etwa, dass sie bei der Jugendbewegung gesungen hat. Seine Mutter? Mit ihrer brüchigen Stimme – und singen? Oder dass sie gegen Ende ihres Wehrdienstes auf dem rechten Auge die Sehkraft verloren hat und die Ärzte ihr nicht erklären konnten, woher das kam, und ihr später auch nicht erklären konnten, warum ihre Sehkraft wieder zurückkehrte. Und da war auch eine entfernte Tante oder nahe Cousine, die etwas von einer misslungenen Schwangerschaft murmelte, zwischen Ze’ela und ihm, und er hatte Ze’ela gefragt, ob sie davon etwas wisse, und Ze’ela hatte in etwas zögerlichem Ton nein gesagt, der vielleicht andeutete, dass doch –
    *
    Die Straße zur Grenze hat so viele Löcher wie eine Küchenreibe, der Caravan ruckelt, die Buchstaben schweben, zittern durch die Luft, und trotzdem muss Dori sich jetzt an irgendetwas festhalten, er braucht ein paar feste Tatsachen, und so liest er in dem Geschichtsbuch das Kapitel über den Titicacasee. Er erfährt, dass dies der höchste schiffbare See der Welt ist, in dem, so will es die Überlieferung der Inkas, wirklich »alles anfing«. Die Ruinen eines Tempels auf der Isla del Sol in der Mitte des Sees bezeichnen den Ort, an dem die Kinder des Sonnengottes auf die Erde hinabgestiegen sein sollen, der Adam und die Eva der Inka-Dynastie, Manko Kapak und Mama Ocllo.
    Im Jahr 1968 – Dori liest weiter und streicht sich dabei über die Bartstoppeln auf seiner Wange – unternahm der Taucher Jacques Cousteau eine achtwöchige Forschungsexpedition, um die Schätze der Inkas, die der Legende nach vor den spanischen Besatzern imSee versenkt wurden, zu bergen. Der Schatz wurde nicht gefunden, und hin und wieder versucht ein anderes Team sein Glück. Bis heute ohne Erfolg.
    *
    Er bittet Alfredo, beim nächsten

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