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Neuland

Neuland

Titel: Neuland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eskhol Nevo
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Gewohnheit, die er von ihm geerbt, von ihm übernommen und in den vielen Stunden, in denen sie zusammen Hausaufgaben in Geometrie machten, sich zu eigen gemacht hat: Was du begonnen hast, machst du auch fertig.
    *
    Ich bin jetzt in Tumbes, sagt er nach zwei Tagen, die seinen Rücken ruiniert haben, zu Roni. Eine kleine Grenzstadt. Von hier aus fahren wir weiter, in ein paar Stunden. Sobald sie die Straße aufmachen. Weißt du, was »Tumbes« auf Spanisch bedeutet? Gräber. Auch mein Zimmer hier ist wie ein Grab, etwa die Größe. Deshalb bin ich aufs Dach des Hostels gestiegen. Hier gibt es so eine Art Sitzecke, zwei Sofas mit zerrissenen Polstern. Ist Neta zu Hause? Bei einem Freund? Das ist ja toll. Schon das zweite Mal diese Woche? Wow. Vielleicht muss ich noch ein bisschen in Südamerika bleiben: Ich sehe, meine Reise tut euch nur gut.
    An dieser Stelle sollst du sagen: Nein, wie kommst du denn darauf, komm nach Hause, du fehlst uns.
    Roni?
    Roni?
    Diese blöde Verzögerung, man kann nicht wissen, ob du schweigst, oder ob deine Worte einfach Zeit brauchen, um hier anzukommen.
    Wo waren wir? Ist auch egal. Wie geht’s bei der Arbeit? Auch vorher hattest du viel Stress, oder? Ja. Natürlich. Hör zu, ich werde meinen Vater treffen, und wenn er keine Gefahr für sich selbst ist, werde ich ihn umarmen, ihn am Telefon mit Ze’ela sprechen lassen und zurückkommen. Ich habe nicht die Absicht, auch nur einen Tag länger hierzubleiben, Roni. Ich steige ins erste Flugzeug nach Israel. Und dann kannst du wieder jeden Tag bis acht arbeiten, wie du es so gern tust. Ich bin nicht zynisch. Du siehst mein Gesicht nicht, deshalb siehst du nicht, dass ich nicht zynisch bin, ich meine es ernst. Und ich möchte wahnsinnig gern zu euch zurück. Und mache mir wahnsinnige Sorgen um meinen Vater. Wohin wir von hier aus weiterfahren? Zum Titicacasee. Titicaca. Auf der Grenze zwischen Peru und Bolivien, da gibt es eine Insel, und vielleicht … ja, klar. Nein, ist gut, geh. Du sollst dich nicht wegen mir verspäten. Sagst du ihm, dass ich mich nach ihm sehne?
    *
    Liebst du mich überhaupt? Will er fragen, und fragt nicht.
    Es klingt nämlich nicht so, will er sagen, und sagt es nicht.
    Er bleibt auf dem Dach, steckt Alfredos Telefon in die Tasche, stützt die Hände ins Kreuz und geht zum Geländer, um auf die Stadt zu blicken, ihre Schönheit in sich aufzunehmen.
    Doch er sieht nur Hässlichkeit. Verwelkte Häuser, abgemagerte Pferde, Kranke, Bettler mit amputierter Zukunft, übergelaufene Abwässer, die neben dem Gehweg fließen, eine unschöne Kirche, vielleicht ist sie längst geschlossen, einen Betrunkenen, der kleine Kinder anschreit, die ihn ärgern, große Kinder, die die kleinen Kinder ärgern, die den Betrunkenen ärgern.
    Er setzt sich aufs Sofa.
    Und fühlt sich leer. Nicht leer, sondern müde. Nicht müde,sondern verzweifelt. Nicht verzweifelt, sondern Rückenschmerzen. Einfach fucking Rückenschmerzen. Nicht einfach fucking Rückenschmerzen, sondern Verzweiflung. Nicht Verzweiflung. Da ist der Wunsch, den Wanderstab wegzulegen. Nicht der Wunsch, ihn wegzulegen. Der Wunsch, ihn zu zerbrechen. Er versucht, in seinen Gefühlen sehr genau zu sein – vielleicht wird die Präzision helfen. Doch bis er ganz präzise ist, hat sich die Empfindung schon verändert, ist umgeschlagen in Entspannung.
    Schritte auf der Treppe zum Dach. Und dann eine Frau. Noch bevor er sie sieht, weiß er, dass es eine Frau ist.
    Hübsch, sieht er jetzt. Nicht sein Geschmack, aber hübsch.
    Sieht nicht aus wie die anderen Traveller, die er auf den Märkten und auf den Straßen gesehen hat. Nicht mehr so jung wie die jungen Mädchen und noch nicht so erwachsen wie die Erwachsenen. Irgendwo in der Mitte. Wie er. In diesem Alter, in dem einer nicht nach Südamerika fährt, wenn er nicht einen besonderen Grund hat.
    Sie geht an ihm vorbei, ohne etwas zu sagen, lehnt sich ans Geländer und schaut über die Stadt. Er sieht ihr Profil.
    Sie trägt weite Hosen mit vielen Taschen und eine enge Bluse. Ihre Hosen ähneln denen, die alle Backpacker tragen, aber die Bluse ist etwas anderes.
    Er kann sich nicht entscheiden, ob sie Israelin ist oder nicht.
    Einerseits hat sie eine gesunde Bräune und beängstigend große Wanderschuhe. Und auf dem Rucksack, den sie neben sich gelegt hat, einen Regenschutz, der bei Israelis sehr verbreitet ist. Andererseits trägt sie diese fröhliche karierte Mütze, rot-blau-gelb mit einem kleinen Schirm, unter dem ihr braunes Haar

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