Neuland
war sie Kellnerin gewesen. Nach einer Woche hatte man sie gefeuert, weil sie versucht hatte, einen Aufstand zu organisieren, damit sie und ihre Kollegen einen höheren Prozentsatz ihres Trinkgeldes behalten dürften. Aus dem zweiten Café, in dem sie zu kellnern versuchte, flog sie bereits nach zwei Tagen raus, weil sie sich weigerte, die scheußliche Uniform zu tragen. Da begann sie, Serienweise gefeuert zu schreiben. Erst nur für sich selbst, dann schickte sie einige Kapitel an Freundinnen, und danach – die stellvertretende Herausgeberin eines bedeutungslosen Lokalblattes war im Verteiler einer ihrer Freundinnen – schrieb sie für ein lächerliches Honorar eine wöchentliche Kolumne, die über eineinhalb Jahre in ebendiesem unwichtigenLokalblatt erschien und auf kein großes Echo stieß. Jede Woche gingen unter der E-Mail-Adresse, die am Ende des Artikels angegeben war, einige amüsante Briefe ein, voller Schreibfehler, doch in der Woche, in der sie eine Kolumne über »Verdeckte sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz« veröffentlicht hatte, erreichte sie eine Flut aufgebrachter Briefe von Frauen, die ihre eigenen Erlebnisse zur Fundierung von Inbars These anboten, sie zu ihrer Selbsthilfegruppe einluden oder gleich zu ihr nach Hause kommen wollten, denn Männer seien doch alle gleich, und es gebe nichts Schöneres als Frauenliebe.
Doch dann musste sie die Kolumne »Serienweise gefeuert« aufgeben, da sie eine feste Stelle fand.
Der Leiter eines lokalen Radiosenders hatte mit ihr Kontakt aufgenommen und ihr eine Stelle als Produktionsassistentin in der Senderegie angeboten, bei einer neuen Ratgebersendung, die bald beginnen sollte. Ich verstehe gar nichts vom Radio, wandte sie erstaunt ein, doch er lachte und sagte: Sehen Sie, genau deshalb habe ich an Sie gedacht. Andere Leute hätten sofort angefangen, mir etwas von ihrer reichen Erfahrung auf diesem Gebiet zu erzählen. Und Sie – das ist genau das, was mir an Ihrer Kolumne so gefällt, Ihre Direktheit und Ihre Schärfe. Ich lese Sie jede Woche; Sie wissen, wie man Leute fesselt. Das ist die wichtigste Eigenschaft für eine Produktionsassistentin einer solchen Sendung. Sie müssen binnen weniger Sekunden erkennen können, welcher Anrufer sich dafür eignet, gesendet zu werden, und wer nicht. Alles andere sind technische Dinge, die wir Ihnen schnell beibringen können.
Und wer ist der Moderator der Sendung, der Ratgeber?
Ein paar Tage später, in einem zu lauten Café, saß ihr Dr. Adrian Levin gegenüber, streichelte langsam, in langen Bewegungen seinen Bart, nahm dann seine Armbanduhr ab, legte sie auf den Tisch und bat Inbar, von ihrer Familie zu erzählen.
Von meiner Familie? Sie wiederholte seine Frage, um Zeit zu gewinnen. Das hatte sie als erstes Thema beim Vorstellungsgespräch für einen Job nicht erwartet.
Ja, sagt Dr. Adrian. In der Sendung geht es um die verschiedensten familiären Angelegenheiten. Um alles, was in einer Familiengemeinschaft passiert. Deshalb wüsste ich gerne ein bisschen etwas über die Familie, aus der Sie kommen.
Familiensumpf, rutschte es ihr heraus.
Wie bitte? Dr. Adrian horchte auf.
Man könnte die Sendung »Familiensumpf« nennen, erklärte sie. Dr. Adrian nickte lange (mit der Zeit würde sie sein Nicken deuten lernen; je länger er nickte, umso weniger hielt er von einem Gedanken).
Sie schwiegen ziemlich lange. Dr. Adrian legte seine Armbanduhr wieder an und nahm sie wieder ab. Wie sehr ich schweigende Psychologen hasse wie sehr ich schweigende Psychologen hasse wie sehr ich es hasse wenn Psychologen schweigen, dachte sie, mal sehn wer als erster nachgibt mal sehn wer als Erster nachgibt. Und dann sagte sie: Ich habe nicht wirklich eine Familie. Das heißt, es gibt schon eine. Es gab eine. Aber jetzt ist sie zerrüttet. Und zerstreut.
Dr. Adrian fragte, was sie damit meine, und sie senkte die Stimme, denn sie hatte den Eindruck, die Frau mit dem Laptop am Nebentisch belausche ihr Gespräch, womöglich, um Teile daraus in dem Buch zu zitieren, das sie in ebendiesen Momenten schrieb. Und Inbar hatte keine Lust, Sätze, die sie gesagt hatte, im Buch von jemand anderem zu finden, wenn schon, dann in ihrem eigenen Buch, das es noch nicht gab, das es aber eines Tages geben würde, wenn ihr Herz nicht mehr so furchtbar heimatlos sein würde und sie sich endlich hinsetzen und schreiben könnte.
Dr. Adrian beugte sich ein bisschen zu ihr vor, um ihre leise Stimme zu hören, Pfeifengeruch wehte von ihm zu ihr
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