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Neuland

Neuland

Titel: Neuland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eskhol Nevo
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nicht, vielleicht würde ihre Mutter sie diesmal mit einem rundlichen, breitschultrigen treuen Biedermann überraschen, auf den man sich wirklich verlassen konnte, wer weiß, und vielleicht würde sie ja sogar pünktlich am Flughafen sein und ihre Tochter einmal nicht warten lassen, damit sie nicht an all die anderen, so kränkenden Male denken musste, bei denen sie wie ein Findelkind gewartet hatte, vor dem Kindergarten, vor der Grundschule, vor der Ballettschule, vor dem Camp, in dem sie ihren Grundwehrdienst leistete.
    Wenn du ein paar Tage Abstand brauchst, dann komm zu mir, hatte ihre Mutter gesagt. Berlin wird dich umhaun. Wir werden hier ein bisschen rumlaufen, und von hier aus kannst du in jedes europäische Land fliegen, wenn du willst.
    Aber was wird Großmutter Lili sagen?
    Sie muss es ja nicht wissen.
    Und Bruno … stört ihn das nicht?
    Der hat noch eine kleine Wohnung mit separatem Eingang, in der sein Sohn früher gewohnt hat. Und außerdem ist er sowieso die ganze Zeit unterwegs oder auf Sitzungen.
    Bist du sicher, dass euch das passt?, hatte sie gefragt (und eigentlich wollte sie fragen: Meinst du wirklich, es ist eine gute Idee, wenn wir beide, du und ich, länger als zwei Stunden zusammen sind?).
    Ja, hatte ihre Mutter gesagt und schon am nächsten Tag für sie recherchiert, wo man die billigsten Flüge bekam.
    Fluggäste zum Flug 525 nach Berlin werden zum Abflugsteig D7 gebeten, verkündete der Lautsprecher. Inbar blieb sitzen. Trank weiter ihren Kakao. Sie hatte schon gelernt, dass man lieber den letzten Aufruf abwartete, um noch ein paar Minuten außerhalb des Flugzeugkäfigs herauszuschinden. Sollten sie doch einmal auch auf sie warten, was war dabei?
    Sie schaute sich um. Ein Springbrunnen. Tüten vom Duty-free-Shop. Schnelle Schritte. Wortwechsel. Mit welcher Freude die Leute aus diesem Land wegfahren , schrieb sie als ersten Satz in ihr Tagebuch, welche Erleichterung auf ihren Gesichtern liegt. Zweitausend Jahre Sehnsucht, die Erde dieses Landes zu küssen, jeden Tag haben sie sich dreimal nach Osten gewendet und dafür gebetet, doch ab dem Moment, wo sie hier angekommen sind, drängt es sie nach Westen.
    Ein Mann fesselte ihre Aufmerksamkeit; er saß mit hängenden Schultern am anderen Ende des Cafés und betrachtete Fotos, die vor ihm auf dem Tisch lagen. Sein Haar war kurz geschnitten, auf der zu ihr gewandten Schläfe einige Fäden Grau. Sein Mund war geschlossen, die Kiefer zusammengepresst, als hielte er etwas fest, was ausbrechen wollte. Sein Adamsapfel ragte weit hervor, und sein einer Oberarm, der, den sie sehen konnte, war ziemlich muskulös. Ab und zu strich er sich in einer sanften, eher weiblichen Geste mit zwei Fingern über die Schläfe. Auf die Entfernung konnte sie nicht sehen, was auf den Fotos zu sehen war, doch er wirkte besorgt. Wie ein Mossad-Agent, der das Bild eines flüchtigen Nazis anschaut, den er umbringen soll, dachte sie. Und sofort, ohne dass sie sich zügeln konnte, entspann sich in ihrem Kopf eine verschlungene Handlung, in deren Verlauf sich herausstellte, dass Mutters Bruno ebendieser Nazi war, der umgebracht werden sollte, doch statt in das Haus von Bruno einzudringen, schlich sich der Agent aus Versehen mitten in der Nacht in die kleine Wohnung, in der sie alleine lag, in einem kurzen Nachthemd von einer Art, wie sie noch nie im Leben eines besessen hat und auch nie wagen würde, eines anzuziehen.
    Letzter Aufruf für die Passagiere des Fluges 525 nach Berlin. Bitte begeben Sie sich umgehend zum Abflugsteig D7, drängte der Ausrufer.
    Sie wartete noch ein paar Sekunden, wollte sehen, ob ihr Mossad-Agent – gewiss hatte er eine schöne, tiefe Stimme, dachte sie, er sieht aus wie ein Mann mit einer schönen Stimme – auf denselben Aufruf reagierte. Sie führte sich eine Haarsträhne an die Nase und roch daran, eine Bewegung, die sie unbewusst immer dann machte, wenn ihr jemand gefiel. Dann trank sie den Rest ihres Kakaos, klappte das Tagebuch zu, steckte es in die Tasche, stand auf und ging.

Großmutter Lili
    Ihr Vater, mit einer Karakulmütze auf dem Kopf, hatte sie zu dem Hotel begleitet, in dem sich alle Kameraden von der Hachschara versammelten, und hatte sich unten an der Treppe von ihr verabschiedet. Ich bleibe hier bis es Nacht wird, hatte er gesagt. Wenn du noch einmal herauskommen kannst, dann komm. Aber Papa, hatte sie protestiert. Nur wenn du kannst, unterbrach er sie, und wenn nicht, ist es auch in Ordnung, wir treffen uns ja sowieso in ein

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