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Neuland

Neuland

Titel: Neuland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eskhol Nevo
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im schönsten Moment, wo sich die beiden in dem Plattenladen zusammen in eine Hörkabine drücken undsehr verlegen lauschen, wie Kath Bloom I have never wanted you so much. Come here. Come here singt, hatte dieser Typ – er hieß Joav – es gewagt, ein Gespräch auf seinem Handy anzunehmen, und da hatte sie gewusst, dass er bei ihr keine Chance hatte. Man muss ein steinernes Herz haben, wenn dieser Film einen nicht berührt, hatte sie ihm mit dem inneren Feuer einer Zwanzigjährigen vorgeworfen, als der Film zu Ende war, und er hatte gesagt, jeden bewege eben etwas anderes, und hatte auch noch versucht, sie anzufassen, ihr Haar zu streicheln, damals wollten alle immer ihr Haar streicheln, aber sie hatte sich innerlich schon von ihm gelöst.
    Jetzt hatte Ethan Hawke die Lesung beendet, und Julie Delpy – im Film heißt sie Celine – ging zu ihm hin. Es wurde klar, dass die Verabredung, die sie bei ihrer ersten Begegnung getroffen hatten, nie zustande gekommen war. Doch er hatte über die Nacht, die sie gemeinsam verbrachten, geschrieben. Wie viele Jahre waren seit jener Nacht in Wien vergangenen? Inbar rechnete. Zehn Jahre. Zehn Jahre im Leben der Figuren. Zehn Jahre im Leben der Schauspieler. Zehn Jahre in ihrem Leben. Und sie hat noch immer nicht das Buch geschrieben, das sie schreiben will. Die Zeit zerrinnt dir zwischen den Fingern, ging es ihr durch den Kopf, aber sie versuchte mit aller Kraft, diese Selbstquälerei auf später zu verschieben und sich jetzt ganz Paris und dem Film hinzugeben.

Lili
    Mitten in der Nacht waren sie aufgebrochen. Man hatte sie geweckt. Eine fremde Hand hatte sie an der Schulter gerüttelt. Mitten in einem Traum, in dem sie sich mit Natan auf einem zu kleinen Floß liebte. Ihre Beine hingen über das Floß hinaus und berührten das Wasser. Das Wasser war grün. Natan lachte gerade, als im Hotelzimmer kaltes Neonlicht angeschaltet wurde und sein Lachen erstarren ließ. Sie sprang nicht sofort aus dem Bett auf, wiesie es von sich erwartet hätte. Sie stellte sich schlafend, klammerte sich noch an ein paar weiche Momente. Schließlich erhob sie sich widerwillig und wusch ihr Gesicht an dem schmuddeligen Waschbecken. Der Gruppenleiter öffnete die Tür einen Spalt weit, drängte die Mädchen, sich zu beeilen. Sie zog die Kleider an, die sie am Abend zuvor auf dem Stuhl neben dem Bett bereitgelegt hatte. Ausflugskleider, so hatte man ihnen empfohlen. Auch der Koffer war schon bereit. Ein kleiner Koffer mit wenig Unterwäsche, Wollhandschuhen, einem breitkrempigen gelben Hut, der sie im neuen Land vor der Sonne schützen sollte. Die Traumdeutung von Freud. Zionsliebe von Mapu. Ein Foto von ihr und ihrem Vater, eingewickelt und gut vor Feuchtigkeit geschützt. Der einzige Brief, den sie von Natan bekommen hatte. Ein Schreibheft, zwei Bleistifte, Radiergummi und Spitzer.
    Sie packte ihr Nachthemd in den Koffer, aber dann gingen die Schnallen nicht mehr zu. So holte sie die dicken Wollhandschuhe heraus, steckte sie in die Taschen ihres leichten Mantels und versuchte noch einmal, den Koffer zuzumachen. Diesmal gelang es. Sie ging hinaus und war erleichtert, nicht die Letzte zu sein. Es gab noch ein paar Nachzügler, hauptsächlich Nachzüglerinnen. Henja, Regina, Ruth. Sie kämmten und schminkten sich, malten sich die Lippen an, plapperten auch in dieser Situation ununterbrochen. »Auch ungeschminkt siehst du aus, als wärst du geschminkt; das kommt von dem aufregenden Kontrast zwischen deinem schwarzen Haar und deiner Porzellanhaut«, hatte Natan ihr einmal gesagt und mit seinem Finger wie mit einem Pinsel von ihrem Haar zu ihrem Hals und vom Hals zu ihrer Schulter gestrichen. Jetzt fuhr sie zu ihm. Sie musste keinen Mann mehr verführen. Er würde sie am Strand erwarten und in die Arme schließen, die sich im letzten Jahr bestimmt von der Sonne gebräunt haben.
    Ein Planwagen wartete am Eingang des Hotels. In solchen Lastwagen, dachte sie, transportiert man normalerweise Möbel, nicht Menschen. Wenn du ein Möbelstück wärst – was wärst du dann, hörte sie Natans Stimme in ihrem Kopf, während sie in der kleinenSchlange wartete, die sich gebildet hatte. Eine Leselampe, antwortete sie ihm.
    Erst die Koffer, rief der Jugendleiter, und dann stellst du deinen Fuß hier drauf. Sie ließ ein letztes Mal ihren Blick wandern, vielleicht wartete ihr Vater noch unter einer der Straßenlampen auf sie, doch dann stellte sie den Fuß auf die ineinander verschränkten Hände des Gruppenleiters, der

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