Neuland
ihr eine Räuberleiter machte, stieß sich ab und landete mit Schwung im Inneren des Lastwagens. Drinnen waren Jungs von der Hachschara . Sie jubelten und sangen. Für Lili war es zum Singen zu früh, doch langsam sprang die Freude über. Auch die anderen Mädchen kletterten hinein und schlossen sich dem Gesang an. Sie erinnert sich nicht, was sie sangen. Sie erinnert sich an den Geruch des Zelttuchs und daran, dass einer der Jungen eine Kurve dazu nutzen wollte, sich ihr zu nähern. Auch er roch nach Plane. Die graue Plane umgab sie, verbarg sie vor der Welt und verbarg auch die Welt vor ihnen. Sie konnten die Fahrtroute nicht sehen. Doch wie viele Wege konnte es schon geben? Vom Hotel zum Bahnhof gab es nur einen Weg, und der führte an ihrem Haus vorbei. Sie spürte ein gewaltiges Verlangen, die Plane etwas zurückzuschieben und einen letzten Blick auf das Haus zu werfen, das sie nun verließ, und sie genierte sich ein bisschen, dass in einem so großen Moment so kleine Gedanken sie beschäftigten.
Der Bahnhof war menschenleer. Keine Fahrkartenverkäufer, keine Zigeuner, keine Zuspätkommenden, die alle anrempeln und den Zug dennoch verpassen. Als ihre Mutter noch lebte, waren sie von hier aus zusammen Tante Mina besuchen gefahren. Ihr Herz hatte immer schneller geschlagen, wenn sie das Bahnhofsgelände betrat. So viele Stimmen. Zeitung! Zeitung! Gerüche, Würstchen mit Senf, Geschmäcker, wie Eisen auf der Zunge. So viele Versuchungen. Und sie wollte immer alles versuchen. Dies und das und auch das. Doch ihre Mutter war nie bereit stehen zu bleiben. Zum Schluss kommen wir wegen dir noch zu spät, hatte sie zornig gerufen und sie mit Gewalt weitergezerrt, ihr beinah den Arm ausgekugelt.
Und natürlich waren sie letztendlich immer zu früh dran gewesen und hatten allein im leeren, kalten Wagen gesessen. Gleis drei, ja, das war der Bahnsteig für den Zug zu Tante Mina. Der Gruppenleiter ging jetzt an Bahnsteig drei vorbei und auch an den Bahnsteigen vier, fünf und sechs und öffnete dann eine kleine Tür in einem Zaun. Er führte sie zu einem abgelegenen Gleis, das hinter dem Verwaltungsschuppen verborgen war.
Dort stand dunkel und schlafend ihr Zug. Er sollte sie von Warschau nach Konstanza in Rumänien bringen, wo ein Schiff auf sie wartete. Doch auf der Lokomotive stand nicht der Name des Zielortes, wie üblich, und beim Einsteigen in die Wagen brannten nicht die kleinen Lampen, wie nötig. Es fiel ihr schwer zu glauben, dass diese Geister-Eisenbahn sie tatsächlich an ihr Ziel bringen würde.
Unsere Gruppe – bitte nur in den Wagen Nummer fünf einsteigen!, rief ihr Gruppenleiter, und kurz nachdem die Eisenbahn – erstaunlich schnell – aus ihrem Schlaf erwacht und losgefahren war, wurde Lili bereits zu einer wichtigen Aufgabe in einen anderen Wagen gerufen.
Diese Kameradin hier … hört nicht auf zu weinen, seit wir aufgebrochen sind, erklärte man ihr und zeigte auf eine junge Frau in ihrem Alter, die ihr Gesicht ans dunkle Fenster presste. Lili setzte sich neben sie, und ein Kreis von Neugierigen versammelte sich um die beiden. Sie wollten sehen, ob der Ruf, der Lili vorauseilte, sie könne Menschen zum Reden bringen, gerechtfertigt war. Könnt ihr uns mal allein lassen, bat sie, und jemand witzelte: Im Kibbuz machen aber alle alles gemeinsam, oder? Doch nachdem sie ihre Forderung noch einmal wiederholt hatte, diesmal entschiedener, entfernten sie sich.
Wie heißt du?, fragte sie die junge Frau, die ihr Gesicht an die Fensterscheibe drückte.
Die antwortete nicht, streckte nur unwillkürlich eine Hand zu ihrem Haarknoten und prüfte, ob der sich nicht auflöste, nicht auseinanderfiel.
Woher kommst du, Chavera ? – Wieder nur Schweigen.
Weißt du, vor jedem Ausflug mit der Bewegung, auch wenn es nur ein ganz kleiner war, hatte ich immer so einen Stich im Herzen: Vielleicht sollte ich lieber zu Hause bleiben? Mir fehlt doch nichts. Und sogar heute, als sie uns im Hotel geweckt haben, bin ich noch ein bisschen liegen geblieben. Wenn ich nicht Angst gehabt hätte, dass sie mich auslachen, wäre ich gar nicht aufgestanden.
Aber zum Schluss bist du aufgestanden, fauchte die Kameradin, ohne den Kopf zu drehen, und ihre Worte spritzten vom Fenster weg zu Lili.
Weil ich an einem Ort leben will, wo es keine Schande ist, ich zu sein, sagte Lili. Was sie sagte, klang in ihren Ohren so pompös und hohl wie die Werbebroschüren, die man ihnen aus Erez Jisruel geschickt hatte (nein, dachte sie sich, so
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