Neuland

herüber, obwohl er keine Pfeife hatte, und nachdem sie die Kurzfassung ihrer Familiengeschichte beendet hatte, dankte er ihr für ihre Offenheit und sagte, Jishar wird sich mit Ihnen in Verbindung setzen, und sie war sich sicher, die Würfel waren gefallen. Keine Chance, dass Jishar sich je mit ihr in Verbindung setzen würde, keine Chance,dass Dr. Adrian glauben würde, dass eine so verkorkste junge Frau wie sie zur Produktionsassistentin taugen würde, aber gleich am nächsten Tag schickte Jishar ihr einen – natürlich schändlichen – Vertrag zur Unterzeichnung, und sie versuchte, ihre Konditionen etwas zu verbessern, was ihr in einigen Punkten sogar gelang, und schon einen Monat später saß sie in einem kleinen Zimmer der Senderegie und hörte durch den Kopfhörer Stimmen, Stimmen von Männern, von Frauen, Stimmen, die für die Sendung oft verzerrt wurden, damit man die Anrufer nicht erkannte, aber sie hörte sie so, wie sie waren, stets mit einem Unterton von Not, zu dem noch andere Färbungen hinzukamen. Mit der Zeit lernte sie, immer präziser zu unterscheiden: Stimmen, in denen eine Prise von unterdrückter Gewalt lag. Stimmen, die irgendwie geheuchelt wirkten. Ein Schmerz, der im Gespräch mit Dr. Adrian bestimmt aufbrechen würde. Verzweiflung von Leuten, die sich schon aufgegeben hatten. Aber auch aufmüpfige oder feindselige Verzweiflung. Und natürlich waren da Stimmen, denen man Anzeichen einer seelischen Krankheit anhören konnte (mit der Zeit lernte sie, allein am Ton zwischen Depressiven, Borderlinern und Leuten mit Verfolgungswahn zu unterscheiden).
    Wann beginnt der Film?, fragte die Matrone neben ihr die Purserette, und ihre etwas heisere Stimme mit feinen Überbleibseln eines fremden Akzents, wohl aus Osteuropa, kam Inbar bekannt vor. Es passierte ihr manchmal, dass aus dem Stimmengewirr der Welt eine Stimme zu ihr drang, die sie im Studio schon gehört hatte. Sie schloss die Augen und versuchte, sich zu erinnern, was hatte diese Stimme Dr. Adrian erzählen wollen? Verbrennungen? War es nicht etwas mit Verbrennungen gewesen? Die ihre Tochter sich selbst zufügt? Nein, es ging um Luft. Sie bekam keine Luft. Sie wachte nachts auf und bekam keine Luft, und die medizinischen Untersuchungen zeigten, dass ihre Lungen völlig in Ordnung waren. Schlafen Sie neben Ihrem Mann?, hatte Dr. Adrian gefragt, und sie hatte das bejaht. Dann versuchen Sie doch, in einem anderen Zimmer zu schlafen. In einem gewissen Alter kommt bei manchenLeuten der dringende Wunsch auf, allein zu schlafen, und sie erfüllen sich diesen Wunsch nicht, weil sie das als ungehörig empfinden. Aber mein Mann, hatte die Matrone gesagt, ich bin mir nicht sicher, ob er das gut aufnehmen wird. Das werden Sie erst wissen, wenn Sie es versuchen, hatte Adrian sie gedrängt.
    Jetzt war die Matrone allein. An ihrem linken Ohr, dem, das zu Inbar wies, steckte ein Ohrring mit einem großen violetten Stein, dessen Extravaganz sie überraschte. Ob sie den Rat von Dr. Adrian befolgt und der Mann sie daraufhin verlassen hatte? Das war immerhin möglich. Sie hatten nie recherchiert, was aus den von ihnen Beratenen geworden war. Und manchmal, vor allem nach dem, was vergangenen Monat passiert war – verdammt, wie angenehm waren die letzten Stunden gewesen, in denen sie nicht daran gedacht hatte –, staunte sie, wie Dr. Adrian bei der ganzen Verantwortung, die er auf sich nahm, überhaupt schlafen konnte. Wie war es möglich, dass nicht er nachts mit Atemnot aufwachte?
    Der Film begann. Sie setzte die Kopfhörer auf und fand den richtigen Kanal. Ethan Hawke bei einer Lesung in einem Buchladen in Paris. Plötzlich tritt Julie Delpy ein. Ist das nicht … das ist doch … Before Sunset . Sie wusste, dass eine Fortsetzung zu Before Sunrise herausgekommen war, hatte sie aber nicht sehen wollen, um nicht enttäuscht zu werden. So sehr hatte sie den ersten Film geliebt. Damals hatte Julie Delpy Ethan Hawke in einer europäischen Eisenbahn getroffen, er hatte sie überredet, mit ihm am Bahnhof auszusteigen, obwohl sie eigentlich zu einem anderen Ort unterwegs war, und dann hatten sie in Wien eine lange Nacht in einem offenen Gespräch voll hinreißender sexueller Spannung verbracht.
    Sie hatte sich einmal von einem Typen getrennt, weil er Before Sunrise nicht genug mochte. In ihrer Wohnung hatten sie den Film gemeinsam auf Video angeschaut, und Inbar merkte, wie sein Blick alle paar Minuten vom Bildschirm wegwanderte, und in der Mitte des Films, gerade