Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Neuland

Neuland

Titel: Neuland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eskhol Nevo
Vom Netzwerk:
versagte mitten im Satz, und sie verschränkte die Arme vor der Brust, als müsse sie sich vor der Kälte ihrer eigenen Worte schützen.
    Was sollte Lili ihr sagen? Als sie mit der Hachschara begonnen hatten, hatte man die Einwanderung nach Eretz Jisruel als Akt der Selbstverwirklichung dargestellt. Doch die Nachrichten, die seit dem letzten Jahr aus Deutschland zu ihnen drangen, ließen diese Reise eher als Flucht vor einer rasend schnell wachsenden Lawine erscheinen. Darüber sprach niemand. Jeder, auch Lili, empfand sich selbst als die Vorhut, die den Nachkommenden die Einwanderung ermöglichen würde, und nicht als Flüchtling, der seine Familie zurückließ und aufgab.
    Und wofür, fuhr die Kameradin fort, wofür verlasse ich die Mamme ? Für Eretz Jisruel ? Was wissen wir von diesem Land? Wo wir doch, bevor wir in der Hachschara dieser ganzen Propaganda ausgesetzt waren, gar keine Sehnsucht danach hatten. Und wer erwartet uns dort? Die Engländer? Die Araber?
    Natan, dachte Lili, aber sie wusste, wenn sie ihn erwähnen würde, würde sie bei ihrer Gesprächspartnerin nur Eifersucht wecken. Da sie selbst anderen gegenüber nie Neid oder Eifersucht empfand, hatte sie früher geglaubt, dass auch sie von niemandem beneidet würde. Doch damit war es vorbei. Viele ihrer Freundinnen hatten sich im letzten Jahr von ihr distanziert, obwohl sie gar nichts gemacht hatte. Ernüchtert hatte sie feststellen müssen, dass sie, wenn ihre Freundinnen ihr wichtig waren, aufhören musste, ihnen von der besonderen Liebe zu erzählen, die sie mit Natan verband. Vielmehr musste sie sich beklagen, über ihn, über körperliche Beschwerden oder Albträume, Hauptsache, sie zeigte sich nicht allzu glücklich.
    Hinter dem Fenster ließ erstes, bleiches Licht Formen aus dem Dunkel auftauchen. Bäume, Hütten. Ein früh aufgeweckter Pflug. Hier und da ein Bauer auf einem Maisfeld, der staunend zu der vorbeifahrenden Eisenbahn schaute: Noch nie war hier um diese Zeit eine Dampflok vorbeigekommen.
    Schau mal, schau, wie lang dieser Zug ist, rief die junge Frau und gab Lili ein Zeichen, näher ans Fenster zu kommen. Lili beugte sich vorsichtig vor, um sie nicht zu berühren. Jede Berührung erinnerte sie an Natan, jede zufällige Berührung machte ihr deutlich, wie sehr ihre Haut sich nach einer beabsichtigten Berührung verzehrte. Der Zug fuhr in eine Kurve, und da konnte sie ihn in voller Länge überblicken. Viele, sehr viele Waggons.
    Und was meinst du, Chavera , sind all diese Waggons wirklich wegen Eretz Jisruel voll besetzt?
    Lili setzte sich wieder auf ihren Platz.
    Weswegen sonst?
    Die junge Frau schaute Lili erwartungsvoll an; sie schien jetzt bereit, sich überzeugen zu lassen.
    Wegen der Gelegenheit, noch einmal ganz von vorne anzufangen, sagte Lili glühend vor Begeisterung, eine neue, eine bessere Gesellschaft aufzubauen. Eine neue Qualität der zwischenmenschlichen Beziehungen. Zwischen Partnern, zwischen Müttern … und ihren Töchtern. Jede Generation wiederholt doch die Fehler ihrer Vorfahren, und unsere Generation sagt – genug damit. Lasst uns etwas Neues erschaffen!
    Die Kameradin nickte langsam, als sagte sie: Ich bin mir nicht sicher, ob du Recht hast, aber lassen wir das jetzt.
    Lili dachte: Auch ich bin mir nicht sicher, auch an mir nagen die Fragen, aber wenn ich anderen Mut mache, lenkt mich das ein bisschen von meinen Zweifeln ab.
    Danach schliefen sie beim Schaukeln der Eisenbahn eine an der Schulter der anderen ein.

Inbar
    In der Ankunftshalle des Berliner Flughafens sah Inbar in den ersten Sekunden nur fremde Gesichter. Sofort meldete sich in ihrem Hals die alte Kränkung früherer Verspätungen. Auf dem Kopf begann das Jucken, das bei ihr jeder Krise vorausging. Doch dann bemerkte sie, dass die Frau, die sich am anderen Ende der Halle mit zurückgehaltener Begeisterung bewegte, sie den Umrissen nach sehr an ihre Mutter erinnerte, nur ihr Haar war … weiß. Inbar!, rief die weißhaarige Frau, öffnete ihre Arme, und Inbar lief zu ihr, gab sich dieser Umarmung hin, die länger war, als sie erwartet hatte, und kürzer, als sie es gebraucht hätte. Du siehst wunderbar aus, sagte ihre Mutter, doch ihre Augen, die Inbars Körper taxierten, sagten etwas anderes. Du auch, sagte Inbar, und sie log nicht. Sogar mit weißem Haar war ihre Mutter noch immer eine Schönheit. Diese Kombination von edel geschnittener Nase, hohen Wangenknochen und großen Augen. Komm, sagten ihr diese Augen, Brunowartet draußen. Was ist

Weitere Kostenlose Bücher