Neuland
wird es nichts mit diesem Gespräch!).
Aber was wird aus der Menschheit – jetzt drehte die Kameradin sich um, ihr Haarknoten saß noch immer fest, ihre Augen waren noch immer hart –, was wird aus der Menschheit, wenn alle immer fliehen? Wenn wir das Gleichgewicht der Welt bewahren wollen, dann müssen wir vielleicht gerade dort bleiben, wo wir groß geworden sind, wo wir den Lebensmittelladen kennen, den Arzt, den Zahnarzt. Zu bleiben, das ist vielleicht der wahre Mut!
Jemand hinter ihnen klatschte Beifall. Für einen Moment wirkte es, als bejubelte er die Worte der Kameradin, doch dann merkte Lili, das Klatschen galt einem anderen, unbeschwerteren Gespräch, das zwei Reihen hinter ihnen geführt wurde.
Von was für einer Welt sprichst du? Was für ein Gleichgewicht willst du bewahren? Ist Reichskanzler Hitler das Gleichgewicht, das du … Lili stockte, zögerte, den Satz zu vollenden. Ihre Erfahrung als eine, die andere zum Sprechen brachte, hatte sie gelehrt, dass hinter einer wohlformulierten Ideologie fast immer ein persönlicher, emotionaler Grund steckte. Den musste sie suchen, wenn sie der jungen Kameradin helfen wollte.
Die Eisenbahn fuhr weiter. Sie schaukelte wie ein Pferdewagen.Die junge Frau mit dem hochgesteckten Haar drehte ihr Gesicht wieder zum Fenster. Plötzlich kam ein junger Mann in ihren Wagen gestürzt. Glatzköpfig. Mit auffällig hervorstehendem Adamsapfel. Um den Hals trug er einen Mundharmonikaständer, und er verkündete: Gerade organisiert sich hier ein Klezmer-Orchester. Wer ein Instrument spielt, ist eingeladen! Er legte die Lippen um die Mundharmonika und spielte eine kurze Etüde, die zum Schaukeln des Wagens passte. Danach verbeugte er sich tief – sein Adamsapfel stach ihn fast in die Brust – und schaute Lili erwartungsvoll an.
Ich … ich … spiele nicht, entschuldigte sich Lili. Mit zehn Jahren hatte sie versucht, Geige zu spielen. Sie hielt die Geige gern unter dem Kinn, fühlte gerne die Berührung des Holzes auf der Haut, bekam aber aus dem Instrument keinen einzigen reinen Ton heraus.
Ich kann Klavier spielen, sagte die Kameradin mit dem Haarknoten. Sie streckte ein schönes langes Bein nach vorne, als wären unter dem Sitz vor ihnen die Pedale, die den Ton dämpften oder in die Länge zogen. Der Glatzköpfige mit dem Adamsapfel lachte: Ein Klavier haben wir hier nicht, aber es gibt Töpfe, Pfannen, Gabeln, alles zu Eurer Auswahl, gnädige Frau. Später vielleicht, sagte die Kameradin, wir sind gerade mitten in einem Gespräch, falls du das nicht bemerkt hast. Oh, ja, gewiss, es käme mir nicht in den Sinn, Eure gewichtige Unterhaltung zu stören. Sollte die gnädige Frau jedoch das Bedürfnis empfinden zu musizieren, so möge sie doch bitte im nächsten Waggon nach Jizchak Fimstein fragen.
Er sprach zwar zu der jungen Frau mit dem hochgesteckten Haar, doch seine Augen ruhten auf Lili, und sie senkte den Blick.
Kennst du den?, fragte die Kameradin, nachdem der Musiker weitergegangen war, er hat dich angeschaut, als würdet ihr euch kennen.
Es gibt nun mal unverfrorene Jungs, sagte Lili und dachte an ihren Natan, der sie, bevor er sie das erste Mal küsste, um Erlaubnis gebeten hatte.
Diesem Knaben sind die Umgangsformen wohl zusammen mit den Haaren ausgegangen, sagte die andere, und beide lachten.
Du spielst also ein Instrument?, fragte Lili schnell, bevor die durch das Lachen entstandene Nähe verflog.
Ein bisschen. Die echte Pianistin bei uns zu Hause ist meine Mutter, sagte die junge Frau, aber seit sie krank ist, hat sie keine Kraft mehr dazu.
Allmählich klärt sich das Bild, dachte Lili und sagte nichts.
Zwischen den Sitzreihen ging jetzt ein sehr abgezehrtes Mädchen hindurch – Lili wunderte sich, dass man ihr überhaupt erlaubt hatte einzusteigen. Wie sollte sie die Anstrengungen der Reise überstehen? – und verteilte Bitterschokolade unter den Fahrgästen. Die beiden lehnten dankend ab.
Ich werd die Mamme nicht mehr sehen, sagte die Kameradin mit dem Haarknoten, nachdem das Mädchen mit der Schokolade außer Hörweite war, und wegen des zornigen Untertons in ihrer Stimme – denn das war keine Trauer – nahm Lili an, dass sie ein ähnlicher Typ war wie sie selbst. Als Lilis Mutter an einem Herzstillstand gestorben war, hatte das Gefühl, die Chancen zu einem klärenden Gespräch verpasst zu haben, die Trauer über ihren Tod völlig verdrängt.
Ich hab einfach Angst … dass es das letzte Mal war, dass ich … die Stimme der jungen Frau
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