Neuland
entdeckt und setzten die Rumänen unter Druck, sie nicht bis zum Hafen von Konstanza, wo ihr Schiff lag, passieren zu lassen. Die Leute der Hagana bemühten sich, das Problem zu lösen. Er sei sich absolut sicher, dass sie es lösen würden, versicherte er, doch seine laute Stimme zeigte, wie besorgt er war. Und wie sollte er auch nicht besorgt sein? Wie viele Jahre älter als sie war er denn? Zwei oder drei vielleicht.
Niemand durfte aussteigen. Ein junger Mann, der sich der Anweisung widersetzt hatte und ausgestiegen war, wurde auf dem Bahnsteig von rumänischen Polizisten geschlagen. Sie sahen es durch die Zugfenster mit an, sahen, wie man ihm den Arm umdrehte, sahen das Bein, das ihn in den Bauch trat, sahen, wie sein Körper bei dem Tritt zusammenklappte – und konnten doch nichts machen. Nachdem er wie ein Sack Kartoffeln in den Zug zurückgeworfen worden war, gingen die Polizisten an allen Wagen vorbei und schrien: Vesos la wagon! Vesos la wagon!
Nur im Waggon.
Schrecken breitete sich aus. Lili hatte schon immer die Vorstellung gehabt, dass nicht nur Materie, sondern auch Atmosphäre aus kleinsten Teilchen bestand, und nun konnte sie regelrecht sehen, wie diese den Gang und die kleinen Zwischenräume zwischen den Sitzen ausfüllten.
Bis die Klezmer kamen.
Sie stürmten mit einer Fanfare in den Wagen, und alle Blicke richteten sich auf sie. Außer der Trompete gab es eine Mandoline, eine Klarinette, einen Triangel und eine Vielfalt von Schlaginstrumenten, vom Tambourin bis hin zum Tscholent -Topf. Sie wurden dirigiert von dem glatzköpfigen Mundharmonikaspieler, Jizchak Fimstein. Er führte die Musikanten herein, er gab ihnen das Zeichen anzufangen und zeigte ihnen mit schnellen Blicken, wann sie zum nächsten Stück übergehen sollten, und er bedeutete auch dem Publikum, wann es mitsingen konnte. Er trug eine lange Hose und ein graues, abgetragenes Unterhemd, an dem eine Fliege steckte. Es sah lächerlich aus, aber das störte ihn nicht. Lili war wider Willen gefesselt von seiner Mimik. Er hatte einen großen Adamsapfel, der im Rhythmus der Musik hoch- und runterhüpfte, und seine großen Nasenflügel wurden abwechselnd weit und wieder eng. Wenn sie ein fröhliches Stück spielten, bebte seine dicke Unterlippe freudig. Wenn er eine traurige Melodie spielte, zog er die buschigen Augenbrauen übertrieben ernst zusammen, und wenn er den Leuten signalisieren wollte, dass sie aufhören sollten zu klatschen, um den Part des Mandolinenspielers zu hören – der im Grunde der einzige professionelle Musiker im ganzen Orchester war –, schloss er die Augen sanft und konzentriert und beugte sich ein bisschen vor, als wollte er ein Mädchen küssen.
Der ganze Wagen sang mit. Nachdem auch die kleinsten Teilchen der Niedergeschlagenheit verflogen waren, führte Jizchak Fimstein das Orchester zu einem besonders getragenen Walzer an, und am Ende verbeugte er sich tief vor Henja und reichte ihr eine imaginäre Rose.
Die Rose reichte er Henja, doch Lili schaute er direkt in die Augen, und sie fragte sich, ob noch jemand außer ihr das bemerkte.
Nach dem Applaus zog das Orchester weiter in den nächsten Wagen, und Lili stand auf und folgte ihnen. Unauffällig. Sie wollte nachschauen, wie es Esther ging, und dachte, wenn es den Musikanten erlaubt war, von einem Wagen in den nächsten zu ziehen, dann konnte man es ihr nicht verbieten. Vielleicht willst du dich auch nur wieder stark fühlen, neben jemandem, der schwach ist, hinterfragte sie sich gleich wieder, und dort, wo die Waggons aneinandergekoppelt waren, wo der Wind reinblies und alles dunkel war, stolperte sie und hielt sich an dem Mandolinenspieler fest, der vor ihr lief, ging aber, sobald sie ihr Gleichgewicht wiedergefunden hatte, wieder auf Abstand. Die Stelle ihrer Schulter, die ihn berührt hatte, brannte, Wellen der Scham schlugen von dort aus durch ihren ganzen Körper, doch der Mandolinenspieler ignorierte edel diesen Zwischenfall, und sie ging weiter mit den andern nach vorne.
Esther freute sich, Lili zu sehen. Ich wollte dich auch besuchen, sagte sie, aber sie haben doch gesagt, das sei verboten. Komm, setz dich zu mir. Lili drängte sich mit auf ihren Platz, ihre Hüften berührten einander, und Lili hörte sich das Konzert noch einmal an. Es waren dieselben Stücke, doch die Mimik von Jizchak Fimstein überraschte sie immer neu. Jetzt bemerkte sie, dass auch seine Glatze bei der Aufführung mitspielte, sie legte sich in Falten und glättete sich
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