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Neuland

Neuland

Titel: Neuland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eskhol Nevo
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wieder zum Rhythmus der Klopftöpfe. Oho, sagte er nach einem der Stücke und schaute ihr direkt in die Augen, ich sehe, eine treue Anhängerin haben wir schon.
    Nein … Unsinn …, stotterte Lili und zeigte auf Esther, ich wollte nur sehen, wie es ihr geht.
    Gewiss doch, sagte er nickend, mit einem Lächeln, bei dem sie zu zittern begann, und gab den Spielern das Zeichen, die Melodie zu ändern. Sie spielten den Walzer, den sie schon kannte, und Lili überlegte sich, wem er wohl diesmal die imaginäre Blume reichen würde –
    Da betrat ein Gruppenleiter den Wagen und forderte das Orchester auf, das Spiel zu beenden. Man hört euch draußen, warnte er, und das weckt Interesse, das wir jetzt wirklich nicht brauchen können. Wir müssen uns absolut unauffällig verhalten, bis das Problem gelöst ist.
    Jizchak Fimstein durchschnitt die Stille mit einem letzten Atemzug, den er noch einmal protestierend in seine Mundharmonika blies, doch der Gruppenleiter schoss einen scharfen Blick auf ihn ab und mahnte: Genug, Fima, dein Unfug ist jetzt fehl am Platz. Alle, die nicht hierher gehören, gehen bitte in ihre Wagen zurück, auch die Klezmer.
    Dieser Spitzname, Fima, passt zu ihm, dachte Lili, verabschiedete sich von Esther mit einem Winken, das etwas zu fröhlich geriet, und kehrte zurück an ihren Platz.
    Die schweren Stunden begannen gegen Mittag. Unerträglich wurde die Hitze im Wagen. Schweiß rann an Lilis Rücken herunter und sammelte sich im Bund ihrer Unterhose. Aus den Toiletten drang gewaltiger Gestank, dessen Radius sich mit jedem, der sie betrat, ausweitete. Fliegen umschwirrten die Wagen, suchten die Quelle des Gestanks und belästigten die Fahrgäste. Die Jungs in Lilis Wagen begannen eine Art Wettstreit, wer die meisten Fliegen erschlug, aber ausgelassen waren sie dabei nicht. Einige Mädchen zogen ihre Oberteile aus und saßen nur in Hemdchen da, doch Lili empfand das als unpassend, obwohl ihre Bluse zu dick für diese Feuchtigkeit war. Sie könnte sich eine dünnere Bluse anziehen, aber wo? Der Geruch der Toiletten bewirkte in ihr ein schwaches, aber regelmäßiges Aufstoßen, und sie fürchtete, wenn sie hineinging, würde sie sich übergeben. Nachmittags kamen dann rumänische Kinder an die Fenster und boten an, ihnen an den Wasserhähnen der Bahnstation Wasser nachzufüllen. Gefäße wurden hinausgereicht, dazu ein paar Münzen, und angefüllt mit rostfarbenem Wasser zurückgegeben. Sie waren zu durstig, um wählerisch zu sein. Die rumänischen Jungen brachten ihnen die ganze Nacht über weiteren Nachschub für ihren Proviant an die Fenster. Dann, gegen Morgen, schlug die Stimmung plötzlich um. Jemand musste ihnen erzählt haben, dass in dem Zug Juden waren, und sie schrien: Juden, geht nach Hause!, und warfen Steine gegen die Zugfenster. Ein Stein traf das Fenster auf der andern Seite des Ganges, und das Glas bekam Risse wie ein Spinnennetz. Rumänische Polizisten brachten die Steinewerfer nur langsam weg, und Lili fragte sich: Was für ein Zuhause meinen die denn? Wohin genau soll ich nach Hause gehen?
    Alle paar Stunden kamen die Gruppenleiter in den Wagen und berichteten, dass es nichts zu berichten gab. Janek, ein leicht zurückgebliebener Knabe von ihrer Hachschara , fing an, seinen Kopf gegen einen Fensterrahmen zu schlagen, und seine Freunde eilten zu ihm, um ihn daran zu hindern. Lili wusste, gleich würde man auch sie bitten, mit ihm zu reden, ihn zu beruhigen, und die paar Sekunden, die ihr bis dahin noch blieben, nutzte sie, Kräfte zu sammeln. Sie schloss die Augen und stellte sich ein Bild vor, das ihr immer innere Ruhe verschaffte: sie und Natan in ihrem neuen Haus in Eretz Jisruel . Sie wusste nicht genau, wie es in Eretz Jisruel aussah, doch in ihrer Vorstellung lag ihr Haus im Grünen, und in der Nähe floss ein kleiner Bach. Natan, in kurzen Hosen und Unterhemd, brachte seine Wunder-Omelettes aus der Küche, die Sonne schien durchs Fenster, sie saß im Schneidersitz auf einem weichen Teppich, und neben ihr, auf mehreren Decken, schlief ihr Töchterchen. Sie wusste schon, wie sie es nennen würde.

Hanna
    Ihr hatte man Inbar direkt nach der Geburt weggenommen. Daran erinnerte sie sich immer, wenn sie sich stritten. Früher hatte sie versucht, diese Erinnerung zu bekämpfen, sie in die Tiefen, aus denen sie emporstieg, zurückzudrängen, und wenn sie darin ertrinken würde. Jetzt kämpfte sie nicht mehr, sondern gab sich diesen Qualen wissentlich hin. Wie ein Fingernagel, der eine

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