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Neuland

Neuland

Titel: Neuland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eskhol Nevo
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Golgatha trug, verwehrt, sich an die Wand seines Hauses anzulehnen, um ein bisschen auszuruhen – und um dieser Sünde willen sei er verurteilt, ein wandernder Jude zu sein, verflucht, bis ans Ende der Tage zu leben –
    Sie blättert ein paar Seiten weiter, zu dem Kapitel über Richard Wagners Schrift Das Judenthum in der Musik ; schon seit Monaten kam sie damit nicht weiter.
    Wagner schreibt, der Schuhmacher Ahasver symbolisiere das gesamte jüdische Volk: ein ewiges Schattenvolk, das inmitten sterblicher Völker weiterlebe. Alle anderen Völker würden geboren, wüchsen heran, würden alt und verschwänden zum Schluss wieder von der Welt. Doch die Juden kennten diesen Kreislauf des Lebens nicht, denn sie hätten sich von den Wurzeln ihrer Tradition abgeschnitten, und so seien sie gezwungen, wie Parasiten auf fremden Körpern zu leben und ihre Lebenskraft aus ihnen zu saugen. Ihre Erlösung käme erst, wenn der verborgene, wahre Wunsch Ahasvers in Erfüllung ginge: ganz und gar zu verschwinden.
    Einige Leser, Vertreter der radikalen Intelligenz, verstanden Wagners Aufruf an die Juden, ganz zu verschwinden, als die Aufforderung, ihre eigene Identität zugunsten eines allgemeinen Kampfes für die Befreiung des Menschen aufzugeben. Andere Leser deuteten ihn, als seien Juden vogelfrei, und als Aufruf, sie physisch auszulöschen.
    Und was meinst du ? Hanna schiebt den blinkenden Cursor ans Ende des letzten Absatzes. Welche Lesart von Wagners Vorschlag ist dir näher? Siehst du ihn im romantischen Kontext des neunzehnten Jahrhunderts, wo man im Wandernden Juden, auf Deutsch interessanterweise der » Ewige Jude« , eine Art universalen Reisenden sah, der Distanzen und Zeitalter überwand und die Mühsal der Menschheit auf dem Weg des Fortschritts symbolisiert? Oder siehst du ihn im Zusammenhang der vielen, über den Aufsatz verstreuten, grob antisemitischen Bemerkungen oder gar vor dem Hintergrund dessen, was danach kam – das zwanzigste Jahrhundert, Nazideutschland, Wagners Musik auf Hitlers Kundgebungen?
    Plötzlich dämmert ihr ein Gedanke, ein Ansatz zum Verstehen: Dein wirkliches Problem besteht nicht in der Entscheidung zwischen dem neunzehnten und dem zwanzigsten Jahrhundert, sondern im einundzwanzigsten Jahrhundert. Dein wirkliches Problem besteht darin, diese Legende vom Wandernden Juden im heutigen Berlin zu lesen, mitten in deinem guten Leben. Du fühlst dich hier so wohl, dass sogar der Besuch deiner Tochter in dir keine Sehnsucht nach Israel weckt. Und vielleicht gibt es in der Kultur dieses neuen Jahrhunderts auch gar kein »hier« und kein »dort« mehr, vielleicht sind dies überhaupt veraltete Begriffe – »sche-avar alejhem ha-kelach« . Aber schau doch, auch der Ausdruck scheavar alejhem ha-kelach , den du in deinen Gedanken benutzt – sie schreibt ihn noch nicht einmal hin –, stammt aus einer Sprache, deren Auferstehung erst geschah, als der Jude aufgehört hatte zu wandern. Wie sollte man so eine hebräische Wendung je übersetzen? Ist nicht die Tatsache, dass Übersetzung noch immer vonnöten ist, der Beweis dafür, dass es auf der Welt noch immer ein »hier« und ein »dort« gibt? Sie tippt schnell, Schriftgröße 16, ein paar Stichwörter, damit sie ihre neue Idee am Morgen weiterentwickeln kann:
    Das 21. Jahrhundert. Hier und dort. Multikulti. Multiguilty. Wandern als Strafe (»vierzig Jahre in der Wüste«). Wandern als Rettung (»Zieht hinab nach Ägypten und kauft Getreide, damit wir leben und nicht sterben«).
    Sie möchte noch ein paar Erinnerungshilfen notieren, doch da piepst ihr Handy.
    Bin zurück , schreibt Inbar. Wer ist der Mann, der in meinem Bett schläft?

Inbar
    Im ersten Moment dachte sie, es sei der Mann vom Flughafen, der Todesschütze vom Mossad. Sie stieß einen abgebrochenen Schrei aus. Wenn der Bär von Mensch, der in ihrem Bett schlief, nicht geschnarcht hätte, wäre sie wohl weggerannt. Aber etwas an seinem Schnarchen – nur Großmutter Lili schnarchte dermaßen laut, und jedes Mal, wenn sie und Joavi die Sommerferien bei ihr und Großvater Natan verbrachten, hatte er sie beschworen, Großmutter nichts davon zu sagen, denn sie sei eine Lady, und wenn sie erführe, dass sie schnarchte, würde sie das sehr verlegen machen – etwas am Schnarchen dieses Fremden gab dem Ganzen eine komische Note.
    Sie trat näher an das Bett. Auf Zehenspitzen. Jetzt sah sie, es war nicht der Mossad-Agent, sondern ein anderer Mann. Heller. Für einen Moment spielte sie mit dem

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