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Neuland

Neuland

Titel: Neuland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eskhol Nevo
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Wunde aufkratzt, die vom vorigen Kratzen des Fingernagels an einem Insektenstich stammt. Damals hatte sie eine Blutung, die man stoppen musste, deshalb wurde Inbar ihr weggenommen. Die Hebamme hatte sie nur wenige gnädige Sekunden auf ihrer Brust gelassen und sie dann geraubt und Jossi gegeben, der zu ihrer Rechten saß. Er hatte sie im Arm gehalten, ihre schon damals auffällige Schönheit bestaunt, und dann hatte man sie auch ihm weggenommen – warum, verdammt noch mal, hatte er das zugelassen? Weil sie ihn darum gebeten haben, sagte er immer – und sie hatte man ins Aufwachzimmer geschoben, und erst achtzehn Stunden später hatte sie Inbar wieder in den Armen gehalten.
    Manchmal, das heißt, wenn sie verzweifelt war, das heißt, nachdem sie sich in einen Streit verrannt hatten, dachte sie, die entscheidenden Würfel seien schon damals gefallen, da sei einfach nichts zu machen. Da kannst du noch so viel versuchen zu verändern und wiedergutzumachen, alles ist in diesen ersten schicksalsbestimmenden Minuten entschieden worden. Das ist doch Unsinn, hatte Jossi gesagt. Das ist Unsinn, sagten die Psychologiebücher. Das ist Unsinn, wusste sie in ihren klaren Momenten. Und dennoch, bei Joavis Geburt war sie kein Risiko eingegangen. Auch wenn ich dabei krepiere, ich erlaube nicht, dass sie ihn mir wegnehmen, hatte sie Jossi gemahnt und alle Schmerzmittel abgelehnt, damit niemand einen Moment der Benebelung ausnutzen und ihr das antun konnte, und die Hebamme hatte sie gewarnt, wenn sie ihr ihren Sohn wegnehme, werde sie sie verklagen, und sie hatte Joavi an ihrem Körper gehalten und war erst nach zwei Stunden bereit gewesen, ihn Jossi zu geben, und auch da nur für einen Augenblick, dann hatte sie ihn schon wieder zu sich genommen, beinahe mit Gewalt.
    Bruno drehte sich im Bett um, wandte ihr den Rücken zu. Als fühle er im Schlaf, dass ihre Gedanken sich verdüsterten, als gehe er ein bisschen auf Distanz. Vor dem Einschlafen hatte sie ihm erzählt, wie der Tag gelaufen war. Verstehst du, jetzt, wo ich endlich das Gefühl habe, dass ich ihr etwas geben kann, weil ich selbst woher schöpfen kann, da will sie nicht. Hab Geduld, hatte er gesagt und ihren Kopf gestreichelt, der auf seiner Brust ruhte, hab Geduld. Aber vielleicht ist es schon zu spät, Bruno, vielleicht gibt es einen Punkt, ab dem man nichts mehr gutmachen kann. Schau doch uns an, Hanna, erwiderte er, glaubst du wirklich, dass es so etwas gibt, einen Punkt, ab dem man nichts mehr gutmachen kann?
    Jetzt schläft er, mit seinem ruhigen, europäischen Atem. Sein Gesicht ist friedlich, ohne Ängste. Vielleicht träumt er einen Traum, den er ihr am Morgen schenken wird, wie ein Kind seinen Eltern ein schönes Bild (ihre ganze Kindheit über war sie gezwungen gewesen, beim Frühstück die Träume ihrer Mutter anzuhören, in allen Details, und daraus entwickelte sie eine geradezu josephinische Übung im Traumdeuten).
    Fünfundzwanzig Minuten nach Mitternacht, und Inbar hat noch keine SMS geschickt.
    Das tut sie mit Absicht, um mich verrückt zu machen. Wie diese Miniröcke, die sie auf dem Gymnasium trug. Oder wie sie nach Eilat abgehauen ist. Oder dieser Freund von der Luftwaffe, den sie durch die Kellertür reinließ und mit dem sie kein einziges Mal hochgekommen ist, um ihn mir vorzustellen.
    Hanna steht auf und geht in das Arbeitszimmer, das Bruno für sie eingerichtet hat. Besonders mag sie den Schreibtisch, den er für sie gebaut hat; die Platte aus dunklem Eichenholz, in sanften, runden Linien gesägt, sieht eher wie ein lauschendes Ohr als wie ein Rechteck aus. Über dem Schreibtisch hängt eine Vitrine, in der alle Werke ihres Lieblingsschriftstellers Stefan Zweig im Original stehen. Ein Blick vor der Arbeit dorthin genügt normalerweise, umin ihr die nötige Bescheidenheit zu wecken, die jeder braucht, der einen neuen Gedanken aufschreiben will.
    Sie schaltet den Computer an und öffnet die Datei mit ihrer Doktorarbeit: » Die Darstellung der Juden in der europäischen Folklore der frühen Neuzeit: Zwischen Romantik und Antisemitismus (Arbeitstitel) «. Sie liest die ersten Absätze des Kapitels über die Figur des Wandernden Juden, um sich fürs Weiterschreiben aufzuwärmen.
    Im Jahr 1602 wurde das Volksbuch vom Ewigen Juden gedruckt. Es erzählt davon, wie der Bischof von Schleswig einen Mann trifft, der sagt, er sei Ahasver, der wandernde jüdische Schuhmacher aus Jerusalem. Die Legende erzählt, dieser Ahasver habe Jesus, als er das Kreuz nach

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