Neuland
übersät. Der Kontrast zwischen dem Grau des Betons und den bunten Zeichnungen zog Inbar an. Die Mauer selbst war erstaunlich niedrig, viel niedriger, als die zu Hause zu den besetzten Gebieten, die man von der Mautautobahn aus sah. Und sie hatte Risse, durch die man auf die andere Seite linsen konnte. Die Westseite? Die Ostseite? Inbar war sich nicht mehr sicher. Das ist die längste Open-Air-Galerie der Welt, sagte ihre Mutter mit dem Stolz einer Ansässigen, und erklärte, nach dem Fall der Mauer hätten die Deutschen beschlossen, diesen Teil davon stehen zu lassen, und Künstler aus der ganzen Welt gebeten, sie zu bemalen. Sie gingen langsam, schauten sich ein Bild nach dem anderen an. Ihre Mutter las ihr aus dem Reiseführer vor. Normalerweise mochte Inbar es nicht, wenn man ihr aus Reiseführern vorlas, aber diesmal war es doch interessant, denn auf einigen der Bilder gab es Texte, die nicht auf Englisch waren und die sie gern verstehen wollte. »Die Wand muss weichen, wenn der Meteorit der Liebe kommt«, stand neben dem Bild eines großen Brockens, der in die Weltkugel einschlägt. Irina Dubrowskaja, sagte ihre Mutter, ist der Name der Malerin. Inbar nickte. Sie erinnerte sich hinterher sowieso nie an solche Namen. Auch den Namen des sowjetischen Führers auf dem nächstenBild hatte sie vergessen. Andropow? Breschnew, las ihre Mutter, er gibt Erich Honecker einen Zungenkuss, das war der Präsident von Ostdeutschland, als die Mauer fiel. Und was steht daneben?, wollte Inbar wissen. »Mein Gott, hilf mir, diese tödliche Liebe zu überleben«, sagte ihre Mutter. »Tödliche Liebe«, dachte Inbar, eine präzise Wortverbindung. »Wer will, dass die Welt so bleibt, wie sie ist, der will nicht, dass sie bleibt«, verkündete das nächste Bild auf Englisch. Danach war eines von einer Plastikplane verdeckt. Wird gerade renoviert, erklärte ihre Mutter, die Farben werden erneuert. Dann kam ein wirklich wunderschönes Wandgemälde. Völlig abstrakt. Eine Reihe bunter, fingerhutähnlicher Figuren, arglos oder vielleicht auch nicht, richten sich auf und beugen sich nieder, einige wenden sich einander zu, andere nicht. Sie sahen ein bisschen wie Grabsteine aus oder wie Handpuppen. Das Gemälde erstreckte sich über ein breites Stück Mauer. Dieses Werk …, begann ihre Mutter zu lesen, doch Inbar stoppte sie. Lass mal, ich will nicht wissen, was da steht, ich will es nur anschauen. Komm, bleiben wir einen Moment länger, hier ist eine Bank.
Die Bank war klein, und sie mussten sich sehr dicht nebeneinandersetzen. Inbar betrachtete das Bild und hatte jetzt den Eindruck, dass die Däumlinge ihre Blicke erwiderten.
Du hast Recht. Inbars Mutter schloss das Buch und steckte es in die Tasche, das spricht wirklich für sich selbst.
Zwei Jugendliche auf Skateboards fuhren an der Mauer vorbei und würdigten sie keines Blickes. Ob man einem wohl auch die Zweite Generation ansehen kann?, fragte sich Inbar, sieht man jemandem an, dass seine Eltern aus dem Osten sind? Was tut das zur Sache, dachte sie plötzlich, wunderte sich über sich selbst. Aus dem Westen oder aus dem Osten – seit wann interessiere ich mich überhaupt für diese Art der Selektion?
Wie sehr Großmutter sich gefreut hat, als diese Mauer fiel, sagte sie und bereute es sofort, hatte doch die letzte Erwähnung der Großmutter in einem Streit geendet.
Einer der Däumlinge an der Mauer spitzte staunend die Ohren.Wirklich?, fragte auch ihre Mutter verwundert, ohne Groll in der Stimme, was hat Großmutter denn mit der Berliner Mauer?
Ich habe sie genau an dem Tag, als sie fiel, besucht. Sie hat gesagt, erst jetzt sei der Krieg wirklich vorbei. Sie hatte so eine Art Theorie, dass große Kriege noch lange, nachdem sie zu Ende sind, weitergehen und ihr Echo ins Leben der Menschen werfen, die an ihnen beteiligt waren, und in das Leben von deren Kindern und Kindeskindern. Das ist, wie wenn du einen Berg anschreist. Er wirft das Echo zurück, immer und immer wieder, aber zum Schluss kommt die Stille. Der Kalte Krieg war ein Echo des Zweiten Weltkrieges, und jetzt, wo dieses Echo verklingt –
Ich kann mir vorstellen, wie sie das sagt, meinte ihre Mutter.
Sie war richtig glücklich, Mama. Ich hab sie im Leben noch nicht so gesehen. Sie hatte sich schön angezogen, Musik aufgelegt und ein bisschen getanzt.
Getanzt?
Nicht wirklich, aber sie hat ihre Beine zur Musik bewegt.
Auch einer der Däumlinge auf der Mauer bewegt seine Beine. Als wolle er hochklettern und auf der
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