Neuland
seine Brust zu ziehen.
Der Zug fuhr los. Vorwärts, ja, weiter. Ein gewaltiger Gesang erhob sich in allen Wagen, und in Lilis Körper floss wieder Blut.
Gib dieses Wasser Esther, sagte sie, indem sie ihren Arm Fima entwand und auf Distanz ging. Sie braucht es mehr als ich.
Inbar
Eine schlimme Geschichte, sagte ihre Mutter.
Noch eine kleine Berührung des schmerzhaft bebenden Eidotters, dachte Inbar, und alles schwappt aus mir heraus.
Sie saßen am Ufer des Flusses, auf der einen Seite der Mauer, in einem Café mit Sonnenschirmen, wo die meisten Gäste Bier tranken. Zwischen den Stühlen ausgestreuter Meersand, ein Versuch, dem Ort das Flair eines karibischen Strands zu verleihen. Die zwei großen Palmen, zwischen denen eine Hängematte aufgehängt war, bemühten sich ebenfalls, Erholung zu suggerieren. Inbar zog sich die Schuhe aus und grub ihre Füße in den feuchten Sand. Unter ihnen floss langsam und faul die Spree. Sonnenstrahlen vergoldeten ihr Wasser –
Doch sie beide umgab eine Aura von Ernst.
Inbar riss ein Zuckertütchen auf und schüttete den Inhalt in den Cappuccino. Der Zucker versank langsam in der geschäumten Milch.
»Erpressung«, hat Dr. Adrian zu ihr gesagt?, fragte ihre Mutter nach, schüttelte ungläubig den Kopf.
Ja. Die Frau hat gesagt, sie habe Angst, dass ihr Sohn sich etwas antun werde, wenn sie ihn auffordern würde auszuziehen, und Dr. Adrian sagte, der Junge erpresse sie, und dabei solle sie nicht mitmachen. Anscheinend hat sie am nächsten Tag seinen Rat befolgt, den Sohn aus dem Haus geworfen und das Schloss gewechselt.
Wie ist er dann reingekommen?
Durchs Küchenfenster.
Und du bist dir sicher, dass …?
Absolut. Wenn Hörer bei mir anrufen, sagen sie ihren richtigen Namen. Danach geben wir ihnen einen Decknamen und verzerren ihre Stimme, wenn sie das möchten.
Und Dr. Adrian … okay, vom Produzenten kann man das nicht erwarten … aber Dr. Adrian, hat er nicht …?
Ich habe beiden den Zeitungsartikel gezeigt und ihnen gesagt,dass das die Frau ist aus der Sendung am Sonntag. Und dass das ihr Sohn war. Der Produzent sagte, das sei nur eine Vermutung von mir, man könne überhaupt nichts beweisen. Ich sagte ihm, ihr Name stehe bei mir im Kalender, und er meinte, das sei ein verbreiteter Name. Da hab ich gesagt, dass er sicher froh sei, dass der Junge auch auf seine Mutter schoss, bevor er sich selbst umbrachte, denn so würde keiner die Sendung beschuldigen. Und er meinte, falls ich Recht haben sollte, müsse auch ich mich freuen, dass die Mutter nicht bei Bewusstsein ist.
Und Dr. Adrian?
Der sagte, er brauche Zeit, das alles zu verdauen. Am nächsten Tag hat er eine halbe Stunde vor der Sendung angerufen und erklärt, er fühle sich nicht gut. Da hat Yishar eine Auswahl gesendet, und nach zwei Tagen war Adrian wieder zurück. Als ob nichts geschehen wäre. Weißt du, was die ihm bezahlen?
Ihre Mutter nickte. Langsam.
Inbar zitterte. Nun mach schon, dachte sie, mach mich zur Sau. Denn die innere Mutter, die sie unaufhörlich in ihrem Kopf hörte, quälte sie, seit das passiert war, mit Peitschen und Zangen. Kollaborateurin, schimpfte die innere Mutter sie und sprach das Urteil: Du trägst genauso viel Verantwortung wie die beiden.
Kein Wunder, dass du das schwernimmst, sagte ihre Mutter jetzt. Ist doch völlig klar, dass …
Ja, sagte Inbar, holte Luft und fuhr ermutigt fort: Ich weiß nicht, ob ich da weiterarbeiten kann. Das heißt, jetzt sind schon fünf Wochen vergangen, und wir sind scheinbar wieder in unserem Alltagstrott, aber –
Mach da nicht weiter, sagte ihre Mutter. Es gibt keinen Grund für dich, an so einem Ort weiterzuarbeiten.
Aber das ist ein toller Job, Mama.
Du wirst einen neuen finden, Inbari. Du bist eine begabte junge Frau. Und fleißig. Es wird einen anderen Job geben.
Meinst du?
Da bin ich mir sicher.
Aber meine innere Mutter sagt mir andere Dinge, wollte Inbar sagen. Meine innere Mutter sagt, ich muss fleißig sein, weil ich nicht begabt bin. Und dass ich eine Diät machen muss, denn so wird mich kein passabler Mann wollen. Und meinen Traum mit dem Schreiben sollte ich mir lieber –
Ihre Mutter legte die Hand auf ihre Hand (ihre Mutter! berührte ihre Hand!). Ein Kellner kam zögernd zu ihnen und fragte sie, ob sie noch etwas wollten. Sie sagten nicht ja und nicht nein. Ein starker Wind weckte im Fluss Meereswellen. Der Kellner machte schweigend kehrt.
Weißt du, sagte Inbar und vertraute ihr mit brüchiger Stimme an, was sie noch
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