Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Neuland

Neuland

Titel: Neuland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eskhol Nevo
Vom Netzwerk:
veröffentlicht, hier, schau mal.
    Großmutter Lili mochte Reisen nicht. Die lange, erschöpfende Schiffsreise auf dem illegalen Einwandererschiff hatte ihr »fürs ganze Leben gereicht«. Meinst du nicht, Juden sind schon genug gewandert?, so hatte sie Tante Kati, die eine Reisekauffrau war, bei den Familienessen immer gerügt, und Tante Kati hatte als Antwort den Blick gesenkt. Einmal hatte sie versucht zu argumentieren, in ihrer Agentur gebe es für Mütter angepasste Arbeitszeiten – und das war nicht gut ausgegangen. Seitdem ertrug sie die Schelte von Großmutter Lili ergeben. Wir werden mindestens zehn Generationen brauchen, um »zumud« zu machen, wie die Araber es nennen, zehn Generationen lang müssen wir hier an dieser Erde festhalten und dürfen uns nicht vom Fleck rühren, pflegte Großmutter Lili zu sagen, mindestens zehn Generationen!
    Einmal im Jahr fuhr sie mit Großvater Natan in ein Hotel ans Tote Meer, doch nach seinem Tod hatte sie auch damit aufgehört. Von Reisen nach Europa versuchte sie, ihre Familie immer wieder abzubringen, und prüfte auch immer, dass sie nicht zufällig durch Deutschland fuhren. Die haben jetzt die Grenzen aufgehoben, ihr müsst aufpassen, dass ihr nicht aus Versehen hineinfahrt!, hatte sie sie nach der Gründung der Europäischen Union gewarnt. Und als ihre Tochter verkündete, sie werde zum Sabbatical für ein Jahr nach Berlin fahren und bei ihrem neuen deutschen Freund wohnen, und sie bat, für sie Formulare auszufüllen, die ihr helfen würden, einen polnischen Pass zu bekommen, denn das würde ihr die akademische Bürokratie erleichtern –
    O-ho. Da wurde kein Honigkuchen, kein Tee mit Milch und kein süßes Möhrengemüse aufgetischt. Geh bitte ein bisschen spazieren, hatte die Großmutter Inbar damals gebeten, Mama und ich müssen uns ein bisschen streiten.
    Mensch Omi, ich bin schon groß.
    Großmutter antwortete noch nicht einmal; sie machte nur die Tür auf und wartete bis Inbar an ihr vorbeigegangen war.
    So hatte sie das Haus verlassen und war im Remez-Viertel in Haifa herumgelaufen, bis sie zum Quartier ihrer Jugendbewegung gelangte. Es war verschlossen, und sie schaute durch den Zaun auf die Baracke und den Spielplatz daneben. Den eingeschlagenen Scheiben, dem hochgewachsenen Unkraut und den zerrissenen Basketballnetzen nach zu schließen, war diese Zweigstelle schon lange nicht mehr aktiv. Das Schild über dem Eingang hing noch, aber das erste »r« von »Freiheit und Einwanderung« war runtergefallen. Vor vielen Jahren hatte sie dieses Schild selbst neu gestrichen, und als Guy, der Gruppenleiter, ihr zeigte, wie man den Pinsel hielt, hatte seine Hand die ihre zufällig berührt. Früher hatte sie hier mit Feuer und Flamme Grundsätze verteidigt, die sie, was sie nicht wusste, in Zukunft immer und immer wieder übertreten würde. Einmal hatte sie hier den Film The Blues Brothers gesehen, allerdings nur die erste und die dritte Spule, denn bei der zweiten war sie auf ihrem Schlafsack eingeschlafen. Oft hatte sie sich hier allein gefühlt. Ausgerechnet hier. Oft hat sie das Gefühl gehabt, dass es in der ganzen Gruppe keine einzige verwandte Seele gab. Als sie vor dem geschlossenen Tor stand, sog sie den Geruch der Einsamkeit ein und schmeckte auf den Lippen den bitteren Wunsch, endlich verstanden zu werden. Nicht begehrt und nicht bewundert, sondern verstanden. Wenigstens von einem einzigen Menschen.
    Bald werden sie dieses Grundstück bestimmt an jemanden verkaufen, der hier ein Hochhaus mit großer Eingangshalle und einem Sicherheitsmann errichten wird, dachte sie, und es gab ihr einen Stich ins Herz. Trotz allem. Sonderbar. Sie ging weiter zum Ladenzentrum, kaufte sich in der Pizzeria einen roten Grapefruitsaft, setzte sich auf eine Bank und schaute sich das Gespräch zwischen ihrer Mutter und ihrer Großmutter an. Sie stellte es sich nicht vor, sie sah es regelrecht vor sich, hörte im Kopf ihre Stimmen, als wäre sie selbst dabei. Es war klar, dass Großmutter zunächst gar nichtredete, sondern das Wohnzimmer in Ordnung brachte, dann nahm sie einen feuchten Lappen, wischte den Staub von Großvater Natans Foto auf dem Fernseher und beriet sich mit ihm, was sie mit »seiner« aufmüpfigen Tochter machen solle. Mutter, mit ihrem kurzen Geduldsfaden, gab als Erste nach und sagte: Bruno liebt mich, er macht mich glücklich, Mama, doch Großmutter schüttelte verächtlich den Kopf: Heidegger hat Hannah Arendt auch geliebt, und fügte hinzu, dann soll er doch

Weitere Kostenlose Bücher