Neuland
niemandem erzählt hatte, ich … ich träume von diesem Jungen fast jede Nacht. Ich versuche im Traum immer, ihn zu retten. Und schaff es nicht. Ich schaff es nicht, ihn zu retten, Mama.
Ihre Mutter sagte nichts. Drückte nur ihre Hand, ein bisschen.
Das erste Mal, dass ihre Mutter sie so berührt hatte, war in der ersten Nacht nach der Trauerwoche für Joavi. Die Plastikstühle und die Tabletts mit Borekas waren schon aus dem Wohnzimmer weggeräumt, die Fotoalben lagen im Regal, und der elektrische Samowar stand wieder auf seinem Platz in der Küche. Damals schliefen ihre Eltern noch im gemeinsamen Ehebett. Großmutter Lili schlief im Arbeitszimmer. Und sie, die sich nicht traute, hinunter in ihr »U-Boot« zu gehen, das zu Joavis Bunker geworden war, hatte ein Laken über das Sofa im Wohnzimmer gebreitet und konnte nicht einschlafen.
Sie hatte nicht genug Platz auf dem Sofa, und der Schmerz hatte nicht genug Platz in ihr. Gegen drei Uhr früh gab sie alle ihre Versuche einzuschlafen auf – auf dem Bauch, auf dem Rücken, mit und ohne Kissen –, schaltete den Fernseher an und legte eine DVD der Simpsons ein. The best of . Joavis Lieblingsserie. Schon als Jugendlicher hatte er Poster von Bart, Lisa, Homer und Marge an den Wänden hängen. Und obwohl er die Poster irgendwann abnahm, war seine Begeisterung geblieben. Im Gegenteil, hatte er ihr mal erklärt, je erwachsener ich werde, umso mehr verstehe ich, wie genial diese Serie ist. Genial – noch eines dieser Wörter, die niemand mehr so sagen würde wie er. Sie bändigte mit Mühe einen aufwallenden Schmerz und drückte auf Play . Ein paar Sekunden später hörte sie das leise Näherkommen von Hausschuhen und streckte die Hand nach der Fernbedienung aus, doch die Stimme ihrer Mutter sagte: Mach nicht aus. Die weißen Wolken, die den Beginn der Folge ankündigen, zogen zu den Seiten davon, und ihre Mutter setzte sich dicht neben Inbar. Sie sahen sechs Folgen hintereinander, weinten pausenlos, und als es hell wurde, stand ihre Mutter auf und sagte, Joavi hat schon Recht gehabt, das ist wirklich eine besonders amüsante Serie, und ging in ihr Zimmer. Inbar stellte den Fernseher ab, schloss alle Rollläden und zog alle Vorhänge vor, damit dieses verfluchte Licht nicht länger ins Zimmer drang. Sie empfand es als Beleidigung, dass trotz allem ein neuer Tag begann.
In Berlin ging der Tag langsam zu Ende, und ihre Mutter nahm die Hand noch immer nicht von ihrer Hand (ihre Mutter! nimmt die Hand nicht von ihrer Hand!). So saßen sie eine Weile schweigend da. Ein Mann am Tisch neben ihnen schrieb einen Brief, hob alle paar Minuten den Blick vom Papier und schaute auf den Fluss. Eine Biene kreiste um das Saftglas ihrer Mutter, prallte dagegen, begab sich in Gefahr zu ertrinken, und dann, im allerletzten Moment, hob sie ab und rettete sich.
Sie sprachen Joavis Namen nicht aus, aber er war so präsent, als hätte er an einem bestimmten Moment das Tor zum Café geöffnet, wäre mit seinem leicht wankenden Gang zu ihnen gekommen, hätte sich mit der Hand übers Haar gestrichen – Inbar war nicht bereit, sich an sein kurz geschorenes Haar bei der Armee zu erinnern – und ohne zu fragen einen Stuhl von einem anderen Tisch herangezogen und sich breitbeinig zu ihnen gesetzt. Hi, Mamusch, konnte sie ihn beinahe hören, was geht, Schwesterherz?
Zusammen oder getrennt?, unterbrach der Kellner schließlich ihr Schweigen; er stand mit aufgeschlagenem Block an ihrem Tisch.
Dank dem Jiddischen, das Großmutter Lili manchmal mit Großvater Natan gesprochen hatte, verstand Inbar, dass er, noch bevor er ihnen die Rechnung reichte, eruieren wollte, ob sie und ihre Mutter »zusammen oder getrennt« seien.
*
Als sie in die Einliegerwohnung kam, rief sie Ejtan an. Er ließ das Telefon für ihren Geschmack zu lange läuten, begann aber sofort mit: Meine Schöne, ich freu mich so, dass du anrufst!
Ich wollte deine Stimme hören, sagte sie.
Hier ist sie, erwiderte er.
Sag mir was Liebes, bat sie, streichelte mit der Hand, die nicht den Hörer des Telefons hielt, die Innenseite ihres Schenkels.
Was Liebes? Er zögerte, und die Verzögerung in internationalen Gesprächen verlängerte sein Zögern und hob es noch hervor. Heute … heute hab ich kapiert, dass ich jeden Tag mehr Lampen in der Wohnung anmache, weil ohne dich alles dunkler ist.
Wow, sagte sie staunend, doch hinter dem ehrlichen Staunen rumorte weiterhin dieser innere Ankläger, der seit ihrer ersten Begegnung
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