Neuland
nach Israel kommen, wenn er so scharf auf dich ist, und Mutter sagte, das ist nicht so einfach, seine Arbeit, sein Geschäft ist dort, und Großmutter schrie: Worum hab ich dich schon gebeten, mein Leben lange gebe ich dir und gebe ich dir, und was hab ich je dafür gewollt? An dieser Stelle tobte ihre Mutter los: Oh, sehr viel hat du gewollt, all die Jahre hast du uns gezwungen, die Zweite Generation nach der Schoah zu sein … und das, wo ihr beide, Papa und du, ja gar nicht in … Und Großmutter biss sich auf die Unterlippe und fauchte: Meinen Vater und meine drei Schwestern haben sie ermordet, ist das nicht genug Schoah für dich? Was willst du denn noch? Eine Nummer auf dem Arm? Kein Problem, die kannst du haben!, und sie streckte ihren Unterarm aus und schrieb mit dem schwarzen Filzstift, der immer neben dem Telefon lag, eine 46 auf ihren Arm, das war das Alter meines Vaters, und 17, 15 und 12. Hier, da hab ich eine Nummer. Bist du jetzt zufrieden? Und ihre Mutter erstarrte für einen Moment und schaute auf Großmutters Arm, nahm dann denselben Filzstift und schrieb auf ihren eigenen Arm in sehr großen Ziffern eine 19 und sagte dabei laut, ich erinnere dich, auch ich habe meine Toten, ja? Aber das heißt nicht, dass ich kein Recht zu leben habe! Da riss Großmutter ihr den Stift mit Gewalt aus der Hand, und für ein paar trügerische Sekunden hatte es den Anschein, als gäbe es eine Kampfpause, doch dann sagte sie: Du … du hast keinen einzigen Moment aufgehört zu leben, nachdem das passiert ist, das Einzige, womit du aufgehört hast, ist, eine Mutter für deine Tochter zu sein, und jetzt soll ich dir helfen, einen polnischen Pass zu bekommen? Pest und Teufel, wozu? Damit du dich noch weiter vondeiner Tochter entfernen kannst, sie verlassen kannst, wie ihr Vater sie schon verlassen hat, sie ist noch nicht erwachsen, Hanna, sie braucht euch noch –
Das ist dann wirklich zu viel für Mutter, denn das Schlimmste, was dir einer im Streit antun kann, ist, dir die Wahrheit zu sagen, und sie zischt leise, sie sei auf diesen Gefallen nicht angewiesen, und stopft ihre Schlüssel und ihr Handy in ihre kleine rote Tasche und geht raus und schlägt mit aller Gewalt die Tür hinter sich zu, damit auch alle Nachbarn es hören, und setzt sich ins Auto, hört ein bisschen den Sender für klassische Musik, um sich zu beruhigen, und wenn der Sprecher sagt »Sie hörten das Doppelkonzert in a-Moll von Brahms«, gibt sie den Code ein, lässt den Wagen an und fährt los, ihre Tochter suchen, zuerst beim Quartier der Jugendbewegung, danach im Ladenzentrum, denn wohin sonst könnte sie gegangen sein, in diesem verschlafenen Viertel, und da ist sie auch schon –
Ein Hupen schreckte Inbar aus den Gedanken; ihre Mutter hielt neben dem Gehweg des Ladenzentrums, und Inbar stieg ein und setzte sich auf den Rücksitz. Nun, fragte sie, hast du sie überzeugt? Ihre Mutter schüttelte den Kopf, wechselte den Gang, und als sie ihre rechte Hand zurück ans Lenkrad legte, sah Inbar, dass auf ihrem Arm groß die Zahl 19 prangte.
*
Auch jetzt fuhren sie zusammen, diesmal im Zug. Zur Berliner Mauer, zu ihren Überresten. Einige Deutsche lasen Bild . Über ihren Köpfen ein Werbeposter für Ferien auf den Bahamas – Kokospalmen und türkisfarbenes Meer. Wohin fahren wohl die Bewohner der Bahamas in Urlaub, fragte sich Inbar. Warum kann man nicht so einen kreisförmigen Deal organisieren, dass einen Monat im Jahr alle Menschen auf der Welt ihre Reiselust ausleben, indem die Leute jedes Landes ein Land weiter nach links fahren. Ihre Mutter hielt den Stadtführer in der Hand, las. Braune Altersflecken aufihrem Arm. Unglaublich, dachte Inbar, sogar Altersflecken sehen an ihr schön aus, symmetrisch, beinah kunstvoll.
Guck mal, sagte ihre Mutter flüsternd zu ihr, als verstünde hier jemand Hebräisch, und wies mit dem Kopf auf eine ältere Frau mit einer dicken Brille. Die ist aus dem früheren Osten. Woran siehst du das?, fragte Inbar. Man riecht’s, sagte ihre Mutter, und da ist auch etwas an der Art, wie sie sich anziehn, entweder zu bunt oder zu fade. Und ihr Englisch, das ist überhaupt hilarious . Wusstest du, dass nach dem Zusammenbruch des kommunistischen Regimes alle Russischlehrer in den Schulen in Ostdeutschland auf einen Schlag zu Englischlehrern wurden? Das Desaster kannst du dir vorstellen.
Am Bahnhof Warschauer Straße stiegen sie aus. Vor ihnen stand ein langes, sehr langes Stück von jener Mauer, ganz und gar mit Graffiti
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