Neumond: Kriminalroman (German Edition)
immer im Schnee lag, sah hoch und schaute direkt auf zwei rote Turnschuhe mit Klettverschluss. Er griff nach der Taschenlampe, die ihm beim Sturz aus der Hand gefallen war, rappelte sich hoch und leuchtete sein Gegenüber an. »Hallo Patrick«, sagte er. »Wie gut, dass ich dich gefunden habe.«
»Haben Sie sich wehgetan?«, fragte der noch einmal. »Als Sie hingefallen sind, hat das nämlich so ausgeschaut, als würde es wehtun.«
Morell lächelte. »Ach weißt du«, sagte er. »Ich bin in den letzten Tagen noch viel schlimmer hingefallen.« Er hüpfte ein paar Mal auf und ab und bewegte dann seine Finger. »Siehst du? Alles funktioniert noch wunderbar.«
Patrick nickte ernst. »Gut. Dann auf Wiedersehen.« Er drehte sich um und wollte weggehen.
»Halt, mein junger Freund.« Morell ging ihm hinterher. »Wo willst du denn hin?«
»Sie würden mir eh nicht glauben. Niemand glaubt mir. Außerdem ist es gefährlich. Sie gehen darum besser.« Er lief stur weiter.
Erst jetzt fiel Morell auf, dass Patrick ein kleines Messer fest umklammert hielt. Was sollte er jetzt sagen? Was sollte er tun? Er hatte absolut keine Erfahrung mit Kindern. Ob autistisch oder nicht – für ihn waren sie alle kleine Aliens, die in einer anderen Welt lebten. »Es geht um den Tatzelwurm, oder?«, wagte er einen Versuch.
Das war wohl das richtige Stichwort gewesen, denn Patrick blieb stehen, drehte sich um und schaute Morell mit großen Kinderaugen an.
Morell wartete, dass er irgendetwas sagte, was er aber nicht tat. »Ähm …«, redete er also weiter. »Also, ich glaube dir. Weil … weil als ich klein war, da habe ich auch einmal einen gesehen.«
Patricks Augen weiteten sich. »Ja?«, fragte er ungläubig. »Hier?«
»Nein, in Landau. Das ist der Ort, aus dem ich komme.« Hoffentlich nahm Patrick ihm das alles ab. Er war immerhin der mieseste Lügner der Welt, und darum hätte es ihn nicht verwundert, wenn er es nicht einmal schaffen würde, ein autistisches Kind glaubwürdig anzuflunkern.
Seine Sorge war aber anscheinend überflüssig, denn Patrick fing an zu strahlen. »Echt? Und?«
»Am nächsten Tag habe ich es meinen Eltern erzählt, aber die wollten mir nicht glauben. Da ging es mir wohl so wie dir jetzt. Vielleicht können wir ja zurück in den Enzianhof gehen und bei einem heißen Kakao ein paar Erfahrungen austauschen.« Ihm war alles recht, nur um aus dieser Kälte rauszukommen, doch Patrick schüttelte den Kopf.
»Ich kann nicht. Ich muss den Tatzelwurm erst zu einem Rätselduell herausfordern und ihm seine Schuppe zurückgeben. Damit er nicht mehr böse ist. Ich muss das endlich erledigen. Das Warten ist nicht gut für mich.«
Morell verstand nur Bahnhof. Waren alle Kinder so komisch oder nur die autistischen? »Das kann ich doch für dich machen. Der Tatzelwurm ist ein alter Freund von mir.«
Patrick beäugte ihn misstrauisch. Jetzt hatte er sich wohl zu weit aus dem Fenster gelehnt. »Aber Sie haben doch gesagt, Sie kommen aus diesem Landau. Wie können Sie dann meinen Tatzelwurm kennen?«
»Nun, das ist ganz einfach.« Wie gut, dass es so dunkel war. Lügen fiel im Dunkeln um einiges leichter als im Hellen. »Dein Tatzelwurm ist der Bruder von meinem Tatzelwurm. Wir kennen uns also nicht persönlich, sondern nur vom Hörensagen.«
Patrick nickte. Anscheinend schien ihm der Junge die Geschichte zu glauben.
»Ich werde das morgen für dich regeln. Versprochen. Gar kein Problem. Können wir jetzt zurück in den Enzianhof gehen?«
Als Patrick nickte und ihm dann widerstandslos folgte, wollte Morell ihn am liebsten küssen.
»Du hast heute nicht zufällig jemanden im Enzianhof gesehen, der dort nicht hingehört?«, fragte er, als er mit Patrick, der sein Fahrrad schob, zurück in Richtung Wärme lief.
Der Junge schüttelte schweigend den Kopf.
»Und gestern?«
Erneutes Kopfschütteln.
»Und davor? Hast du in den Tagen davor irgendwen gesehen, der dir nicht ganz geheuer war?«
Erneutes Kopfschütteln. Wenn es nicht um den Tatzelwurm ging, schien Patrick nicht sehr gesprächig zu sein.
Sie liefen schweigend den Rest des Wegs nebeneinander her. Erst kurz vor dem Ziel machte Patrick den Mund wieder auf.
»Mutter wird sich sicher furchtbar aufregen. Ich gebe Ihnen die Schuppe darum besser jetzt gleich.« Er holte aus seiner Jackentasche einen silbern glänzenden Gegenstand. Ehrfürchtig reichte er ihn Morell. »Die habe ich vorgestern im Wald gefunden. Die hat er in der Nacht davor verloren, als ich ihn das
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