Neumondkuss: Ein Vampirroman (German Edition)
gefallen. Sie hat doch heute keine Sendung und garantiert etwas ganz Phantastisches für dich gekocht.«
»Ich muss ihn sehen«, sagte Jolin. Ihre Stimme zitterte, und sie kam sich schrecklich klein und dumm vor, aber das war ihr egal. Wenn sie Rouben nicht innerhalb der nächsten sechzig Minuten in den Arm nehmen konnte, würde sie durchdrehen.
Zum Glück hatte Gunnar sich den Weg bis zu dem Wäldchen, das einige Kilometer außerhalb der Stadt lag, eingeprägt. Jolin hätte nie und nimmer mehr hierhergefunden, nicht einmal an das Holzschild mit der Ähre am Straßenrand hatte sie sich erinnern können, und als nach einer Ewigkeit endlich der Hügel und das kleine einsame Haus in Sichtweite kamen, war sie unendlich froh, dass ihr Vater schon einmal hier gewesen war.
Auf den ersten Blick hatte sich nicht viel verändert. Das Mauerwerk machte nach wie vor einen porösen Eindruck, und noch immer starrte das Haus ihnen aus dunklen Fensterhöhlen entgegen, nicht einmal das Dach hatte Rouben repariert. Jolin presste die Lippen zusammen. Was hatte er bloß die ganzen letzten Wochen hier getan?
Sie beschlich ein ungutes Gefühl, als sie die Beifahrertür öffnete und auf den Schotterweg hinaustrat. Obwohl es nicht besonders kalt war, schob sie fröstelnd die Hände in die Taschen ihres Steppmantels und ging zögernd auf die Gartenpforte zu. Wenigstens hier hatte Rouben die fehlenden Holzlatten ersetzt, und er hatte auch die rostigen Angeln und Beschläge gegen neue, silbrig glänzende ausgetauscht. Bevor Jolin die Pforte öffnete, sah sie sich um. Rouben hatte sich ein Auto zugelegt, einen kleinen blutroten Alfa 147, aber von dem war weit und breit nichts zu sehen.
»Bestimmt sitzt er längst bei uns zu Hause in der Küche und lässt sich von Paula verwöhnen«, sagte Gunnar Johansson, der inzwischen ebenfalls ausgestiegen war.
Jolin nickte. Noch einmal ließ sie ihren Blick über die Vorderfront des Hauses gleiten. »Wieso macht er hier nichts?«, murmelte sie.
»Nichts?«, erwiderte ihr Vater. »Entschuldige bitte, aber ich finde, jetzt bist du ungerecht. Rouben ist dabei, die obere Etage zu renovieren, und außerdem geht er auch noch zur Schule. Vielleicht erinnerst du dich … der zwölfte Jahrgang ist nicht ganz ohne.«
Wem sagte er das! Jolin mochte gar nicht daran denken, was sie alles nachzuholen hatte. Den Unterrichtsmaterialien, die sie von Anna und Rouben bekommen hatte, hatte sie nicht viel Beachtung geschenkt. Natürlich hatte sie hin und wieder hineingesehen und auch ernsthaft versucht, sich darauf zu konzentrieren, doch leider war ihr das nicht recht gelungen. Wenn Rouben bei ihr war, bestand ihr Leben aus ihm, hatte sie Besuch von Anna oder einem der anderen Mädchen, dachte sie an ihn, war sie allein, gehörten ihre Träume ihm, und zwar vollkommen egal, ob sie mit offenen Augen auf ihrem Bett lag oder schlief.
Im Grunde war es im höchsten Maße erbarmungswürdig, wie abhängig sie bereits von ihm war. Aber auch das war Jolin egal. Sie hatte immer von der ganz großen Liebe geträumt, jedoch nicht ernsthaft damit gerechnet, so etwas tatsächlich einmal zu erleben. Und dann war Rouben in ihr Leben gebrochen, kalt und gleichgültig, aber immer präsent. Er hatte ihr keine Wahl gelassen, und er hatte verdammt nochmal recht damit gehabt. Im Nachhinein bereute Jolin nicht eine Sekunde.
Rouben war ein Geschenk, und zwar das kostbarste, das sie sich vorstellen konnte. Vielleicht gehörte er ihr nicht für immer, aber die Zeit, die sie mit ihm verbringen durfte, wollte sie bis in den allerletzten Augenblick hinein auskosten … und dann sterben. Ein Leben ohne ihn konnte Jolin sich einfach nicht mehr vorstellen.
»Für immer …«, flüsterte sie, während ihr Blick über die zerschlagenen Dachziegel glitt. Dort oben hatte er also mit der Renovierung begonnen. Ausgerechnet dort, wo sie ihre bisher einzige Nacht miteinander verbracht hatten.
War seine Erinnerung daran so ernüchternd, dass er es lieber vergessen wollte? Sträubte er sich deshalb so, es wieder zu tun?
»Wovor scheust du zurück, Rouben?«
Jolin wollte sich nicht ausmalen, was aus dem Zimmer dort oben geworden war, den alten Möbeln, den Hunderten von Kerzen und dem romantischen Lager, das er für sie bereitet hatte. Wie hatte sie damals nur so blind sein können, dass sie nicht sah, was er ihr damit zeigen wollte. Egal! Es hatte keine Bedeutung mehr. Jetzt war jetzt, die Vergangenheit lag hinter ihnen und würde sie hoffentlich nie
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