Neumondkuss: Ein Vampirroman (German Edition)
wandte Rouben sich ab. Seine Augen waren schmal geworden, seine Nasenflügel wölbten sich, und sein Kinn bebte. »Da hast du wahrscheinlich sogar recht«, stieß er hervor. »Würdest … würdest du mir verraten, was diese neue Prophezeiung genau besagt?«, fügte er schließlich stockend hinzu, und während seine Hände sich um den Rand des Korbes krallten und er seinen wuterfüllten Blick in die Ferne des Abendhimmels richtete, wiederholte Jolin ein weiteres Mal die Worte, die Ramalia – davon jedenfalls war Jolin immer noch felsenfest überzeugt – ihr geschickt hatte:
»Nur das Haar eines Menschenkinds ermöglicht dir die Rückkehr in die Welt des Lichts, nur das Blut deines Bruders vermag dich von den Untoten zu erwecken und ihn selbst für immer in die Finsternis zu verbannen. Und nur in einer Frühlingsnacht des sich erneuernden Mondes kannst du das, was ihm das Liebste ist, auf ewig für dich gewinnen.«
Noch während die letzten Worte zwischen ihnen verhallten, legte Rouben seinen Kopf in den Nacken und spie einen Schrei in den Himmel, der aus der Tiefe seiner Seele zu kommen schien und Jolin spontan die Tränen in die Augen trieb.
»Es wird nicht passieren«, sagte sie mit zitternder Stimme. »Niemals werde ich einen anderen so lieben wie dich. Schon gar nicht dieses … dieses sadistische Monster!«
»Wenn diese Botschaft tatsächlich einem Regelwerk der dunklen Welt entspringt, dann wird es so kommen, und niemand, weder du noch ich, wird irgendetwas daran ändern können«, erwiderte Rouben. Langsam drehte er sich zu ihr um und legte ihr behutsam seine steinharten, eiskalten Hände auf die Schultern. »Wenn es tatsächlich so ist«, wiederholte er, »dann weiß dieses sadistische Monster das auch. Und jetzt hör zu, Jolin«, fuhr er eindringlich fort. »Vincent trinkt von meinem Blut und spritzt sein Gift hinein, wann immer ihm danach ist. Es verteilt sich in meinem Körper und in meiner Seele, und dadurch werde ich ihm immer ähnlicher. Mein Wechsel in die dunkle Welt steht unmittelbar bevor, während Vincent zugleich mehr und mehr menschliche Qualitäten annimmt. Inzwischen erträgt er die Lichtstrahlen des Abends, ich aber die des Morgens nicht mehr. Er macht sich einen Spaß daraus, seinen Blutdurst zu kitzeln und ihm zu widerstehen, während der Drang in mir, dem nachzugeben, immer mächtiger wird. Anfangs dachte ich noch, ich wäre stark genug, mich dagegen wehren zu können, es war unvorstellbar für mich, dir jemals etwas antun zu können, und jetzt …«
»Hast du die Frau aus der Siedlung getötet, Rouben?«, wisperte Jolin. Sie berührte ihn sachte mit den Fingerspitzen und suchte in seinen dunklen Augen nach einer Regung. »Die Frau mit dem grünen Mantel, die in Harros Container wohnte?«
»Nein, Jol, das habe ich nicht. Ich bin dort gewesen, das ist wahr, und ich war wütend und hatte irrsinnigen Durst … fast hätte ich zugebissen.« Wieder verzerrte sich sein Gesicht zu einer schmerzvollen Grimasse. »Im letzten Moment konnte ich mich aber doch noch beherrschen.«
»Dann ist es Vincent gewesen«, stellte Jolin nüchtern fest.
»Ja! Das ist sein Spiel, das er mit mir spielt und über alles zu lieben scheint. So zu tun, als sei er schon ich, ein Mensch, das Ich an deiner Seite. Jede Nacht steht er vor eurem Haus, im Schatten der Laterne …«
»Und meine Eltern denken natürlich, dass du das bist«, setzte Jolin hinzu. »Paula ist schon total hysterisch. Ich glaube, sie hält dich für geistesgestört. Und dein Bild … es flimmert über die Nachrichtenbildschirme in den U-Bahn-Stationen.«
»Womit Paula ja nicht einmal unrecht hat. Ich wundere mich ja selber, dass ich nicht schon längst durchgedreht bin.«
Jolin ließ ihren Blick zärtlich über sein Gesicht gleiten. »Du hast eben eine starke Seele.«
»Was spielt das für eine Rolle? Schon bald werde ich überhaupt keine mehr haben. Und deshalb ist es auch völlig egal, ob deine Eltern mich für einen Psychopathen halten … oder die ganze Welt nach mir sucht.«
»Dann hältst du die neue Prophezeiung also doch für wahr?«, flüsterte Jolin.
»Möglich.« Rouben schlüpfte unter ihrer Hand weg und stellte sich auf die andere Seite des Korbes. »Ich weiß nicht mehr, was ich denken soll. Ich weiß ja nicht einmal, ob diese seltsame Botschaft, die du Ende Februar in dem Antiquariat erhalten hast, von meiner Mutter oder von Vincent stammt. Ich habe versucht, es aus ihm herauszukriegen, mal sagt er ja, mal nein,
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