Ferdinand … Was für eine Scheiße! Das war doch keine Musik! Jedenfalls keine, wie sie sie jetzt brauchte.
Jolin wirbelte herum, und ihr Blick fiel auf die Jacke. Wenige Sekunden später hielt sie Klarisses iPod in der Hand. Sie steckte die Stöpsel in ihre Ohren und klickte sich durchs Menü. Es gab nur einen einzigen Song, aber den hatte Klarisse gleich mehrere dutzend Male hintereinander raufgeladen. Heavy Cross von Gossip.
Jolin startete ihn und wusste bereits bei den ersten Gitarrenklängen, dass dies genau der richtige Song war. Sie schloss die Augen und wippte mit dem Fuß. Sie sah den Ballon, spürte Rouben, der sie durch den Wald trug, und empfand noch einmal diesen magischen Moment der innigen Verbundenheit, als sie ihre Hände ineinandergelegt und so deutlich empfunden hatten, dass sie unwiderruflich zusammengehörten. Und als die Frontfrau mit ihrem Gesang einsetzte und die Gitarre so richtig losbratzte, lief all das wieder und wieder in wilder Abfolge vor Jolins innerem Auge ab. Sie sah Roubens unendlich gequältes Gesicht und die zu Eis kristallisierte Träne auf seiner Unterlippe, und Jolin konnte nichts anderes mehr tun, als zu schreien, zu stampfen, zu springen und sich die Verzweiflung über ihr unbarmherziges Schicksal in einer Endlosschleife aus sich ewig wiederholendem Heavy Cross aus der Seele zu tanzen.
original message
from: klarisse
to: r. v. (
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subject:kein betreff
ich bin bereit!
15
Ich will mich von ihr fernhalten, aber dazu fehlt mir die Kraft, ich zähle die Stunden von Sonnenaufgang bis zum späten Nachmittag und lasse es zu, dass Vincent mir dabei zusieht. Seine hämische Freude, seinen Hohn, seine schamlosen Bemerkungen … all das kann ich ertragen, aber nur eine Stunde von Jolin getrennt zu sein stürzt mich in unsägliche Seelenqual.
Inzwischen bereue ich es fast, dass ich diesem fortwährenden grausamen Kampf, der in mir tobt, gestern Nacht kein Ende bereitet und meinen Durst gestillt habe. Doch wie hätte ich jemals meinen Frieden finden können, wenn ich dem Menschen, der mir mehr bedeutet als alles auf der Welt, so etwas Schreckliches angetan hätte?
Ich weiß, dass Jolin anders darüber denkt. Sie hat mich gebeten, sie zu töten, und ich habe gespürt, wie ernst es ihr damit war. In gewisser Weise kann ich sie sogar verstehen. Die Vorstellung, dass ich, dessen Berührung ihren Puls rasen lässt, ihr Herz zum Stillstand bringt, ehe es an dieser Liebe zerbricht, muss etwas Erlösendes für sie haben. Jolin vergisst dabei nur eins: Ich würde sie nicht aus Liebe töten, sondern aus reiner Gier. Und die Kraft, mich gegen diese Gier aufzulehnen, schwindet so rasant, wie das Verlangen, sie vor allem Bösen zu beschützen, steigt.
Ungeduldig warte ich darauf, dass die Sonne hinter den Baumkronen abtaucht.
»Herzerwärmende Grüße an meine Süße«, ruft Vincent mir nach. »Wir sehen uns später … Wie immer!«
Ich achte nicht auf seine Worte, stoße die Tür auf, springe über den Zaun und halte, so schnell ich kann, auf die Stadt zu.
Meine Schritte sind lautlos, sie hinterlassen keine Spuren und die Bewegungen meines Körpers allenfalls einen Luftzug, der die Menschen für einen Moment erstaunt aufmerken lässt. Inzwischen brauche ich mir wahrlich keine Sorgen mehr darüber zu machen, dass mich irgendjemand entdecken oder gar erkennen könnte – nicht einmal Anna, die mir wenige Meter vor der Haustür entgegenkommt.
In fliegender Hast nehme ich den gewohnten Platz unter der Traufe über Jolins Fenster ein und starre in ihr Zimmer.
Jolin ist barfuß, der Kapuzenpulli, den sie in der vergangenen Nacht anhatte, hängt über der Stuhllehne. Sie trägt nur noch ihre Jeans und einen hellblauen BH. Mit geschlossenen Augen und einem goldglänzenden Haarkranz um den Kopf liegt sie auf dem Teppichboden.
Mein Blick klebt auf ihrer hellen, feucht glänzenden Haut. Ich rieche ihr heißes, pulsierendes Blut durch das geschlossene Fenster – und verbringe den Rest des Tages und die Nacht damit, mich davon abzuhalten, die Scheibe einzutreten.
Das Geräusch kam Jolin bekannt vor. Es erinnerte sie an den Lärm, den Roubens Kampf mit Vincent verursacht hatte. Laute Stimmen, ein Krachen von Holz und Metall, dann wurde sie aufgehoben und auf etwas Weiches gebettet. Eine warme Hand strich ihr über die Stirn.
»Jolin, Schatz …?«
Es war die Stimme ihres Vaters.
»Bist du okay?«
»Aber ja, Pa«, murmelte sie. »Ich habe getanzt … Und ich habe Rouben