Neumondkuss: Ein Vampirroman (German Edition)
mich bitte loslassen«, sagte Jolin ruhig. »Du tust mir weh.«
»Ja, was glaubst du wohl, was du mir antust!«, geiferte ihre Mutter. »Und deinem Vater!«
»Es tut mir leid, Ma«, sagte Jolin. »Ich bin mit Rouben unterwegs gewesen.«
»Unterwegs …?« Paula lockerte ihren Griff, und Jolin nutzte die Gelegenheit und schlüpfte unter ihrem Arm durch zur Garderobe hinüber.
»Ja, wir sind mit dem Auto herumgefahren. Wir mussten reden.« Jolin knöpfte Annas Jacke auf, dann fiel ihr ein, dass sie darunter den dreckigen, zerrissenen Pulli trug, schob den mittleren Knopf hastig in sein Loch zurück und bückte sich, um ihre Stiefeletten zu öffnen.
»Ihr habt während einer Autofahrt Probleme gewälzt?«, keifte Paula Johansson. »Ja, sag mal, hast du keine Ahnung, wie gefährlich das ist?«
»Klar, ich bin ja nicht blöd«, erwiderte Jolin. Sie streifte die Stiefel ab. »Es ist übrigens immer gefährlich, auch nächsten Monat noch, wenn ich achtzehn bin.«
Ihre Mutter schob die Unterlippe vor. »Willst du mir drohen?«
»Nein, ich will dir nur klarmachen, wie idiotisch du dich aufführst.«
Paula schnappte nach Luft. »Wie redest du denn mit mir, he? Du kannst dir wohl gar nicht vorstellen, welche Sorgen wir uns um dich gemacht haben, dass wir vor Angst nicht schlafen konnten und …«
»Doch, Ma, das kann ich«, fiel Jolin ihr ins Wort. »Und es tut mir auch wirklich leid. Ich habe versucht, euch anzurufen«, log sie, denn es war ganz sicher gut, etwas in der Art zu behaupten, »aber wir steckten in einem Funkloch. Und später habe ich es dann einfach vergessen, weil mir die Sache mit Rouben wichtiger war. Vielleicht kannst du das ja auch ein bisschen verstehen … wenn du dir Mühe gibst.«
»Wenn ich mir Mühe gebe!« Paula ließ resigniert die Schultern sinken. »Meine Güte, Jolin, was habe ich getan, dass du solche Dinge zu mir sagst?«
»Vielleicht versuchst du einfach mal, dich aus dem Fokus zu nehmen und in mich hineinzuversetzen«, schlug Jolin vor.
»Aber das versuche ich ja!«, erwiderte ihre Mutter. »Es ist nur nicht so einfach, wenn ich nichts von dir erfahre und stattdessen ein alarmierender Anruf nach dem anderen von Lehrern und Schulpsychologen hier ankommt.«
»Ach ja?« So langsam dämmerte es Jolin, wie sie den Anruf von Montag, der auf dem AB gelandet war, einzuordnen hatte. »Und was sagen die so, meine Lehrer und die Schulpsychologen? Wenn ich mich recht entsinne, haben wir von der Sorte allerdings nur einen, und der ist eine absolute Pfeife.«
»Den Eindruck hatte dein Vater aber nicht.«
»Remus Karlstedt ist ein Blender«, brummte Jolin. Sie machte eine eindeutige Geste vor ihrer Stirn. »Der hat nicht alle Tassen im Schrank. Der weiß einfach nicht, wie das ist, wenn einem das Herz zerreißt, weil man das verliert, was einem das Liebste auf der Welt ist. Kapierst du das nicht, Ma?«, brüllte sie, und wieder schossen ihr die Tränen in die Augen. »Ich konnte Rouben doch nicht einfach so gehen lassen. Ich musste noch mal mit ihm reden.«
Paula schluckte. »Du ihn ?«, stieß sie hervor. »Aber er ist es doch, der jede Nacht vor dem Haus herumlungert. – So etwas nennt man Stalking!«
Jolin biss die Zähne zusammen. Jetzt bloß nicht ausflippen.
»Es ist vollkommen anders, als du denkst … als ihr alle denkt und euch überhaupt vorstellen könnt«, sagte sie gepresst. »Aber ich kann dich beruhigen, Ma. Ich werde Rouben nicht mehr treffen. Und spätestens in zwei Wochen wird da unten im Schatten der Laterne auch niemand mehr stehen und auf mich warten. Okay?«
Paula schüttelte nur den Kopf.
»Dann eben nicht!« Abrupt wandte Jolin sich ab und schlug ihre Zimmertür laut hinter sich zu. Sie drehte den Schlüssel herum, warf Annas Jacke über den Stuhl und schleuderte ihre Tasche unter den Schreibtisch.
»Reiß dich zusammen, reiß dich zusammen … verdammt nochmal, reiß dich bloß zusammen!«, murmelte sie, während sie wie ein Tiger im Käfig zwischen Kleiderschrank und Schreibtisch auf und ab lief und ihr Gehirn ununterbrochen Bilder abspulte. Vincents arrogante Fratze, Roubens versteinertes Gesicht und die Tränen in seinen Augen, Klarisse und ihr irres Lachen. – Musik! Ja klar, sie sollte Musik hören, das hatte sie schon ewig nicht mehr getan, das würde sie beruhigen und ablenken – wenigstens bis Anna kam. Jolin stürzte zum Regal und ließ die Finger über ihre spärliche CD-Sammlung gleiten. Sting. Gloria Estefan. Mando Diao. Maze. Franz
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